EGV-SZ 1999

[Entscheide Nr. 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40]

 

II. Zivil- und Strafgerichte

25

Zivilrecht

 Mietvertrag: Anfechtung der Kündigung/Ausweisungsverfahren

Aus den Erwägungen:

2. Die Beklagte bestreitet, dass die Kündigung der Geschäftsräumlichkeiten durch die Klägerin zu Recht erfolgt sei. Sie als unterlegene Partei habe zwar gegen den Entscheid der Schlichtungsbehörde keine Klage eingereicht, doch sei dieser Entscheid nicht in Rechtskraft erwachsen. Denn die Klägerin habe bereits am 17. Februar 1999, also noch während des Fristenlaufs für die Anfechtung des Entscheides der Schlichtungsbehörde, beim Einzelrichter im summarischen Verfahren das Ausweisungsbegehren gestellt. Damit sei die Vorinstanz als Ausweisungsbehörde auch für die Beurteilung der Wirkung der Kündigung zwingend zuständig geworden. Deshalb habe die Beklagte nach Zustellung des Entscheides der Schlichtungsbehörde den Einzelrichter im beschleunigten Verfahren nicht angerufen, ansonsten dieser die entsprechende Klage gemäss Art. 274g Abs. 3 OR an die Ausweisungsbehörde hätte überweisen müssen.

a) Hat die Schlichtungsbehörde einen Entscheid gefällt, so wird dieser rechtskräftig, wenn die Partei, die unterlegen ist, nicht innert 30 Tagen den Richter anruft (Art. 274f OR bzw. Art. 273 Abs. 5). Ficht der Mieter eine ausserordentliche Kündigung an und ist ein Ausweisungsverfahren hängig, so entscheidet die für die Ausweisung zuständige Behörde auch über die Wirkung der Kündigung, wenn der Vermieter wegen Zahlungsrückstand des Mieters gekündigt hat (Art. 274g Abs. 1 Ingress und lit. a OR).

b) Die Schlichtungsbehörde fasste ihren Entscheid, wonach die Kündigung der Klägerin gültig und eine Erstreckung ausgeschlossen sei, am 4. Februar 1999. Dieser Entscheid wurde am 8. Februar 1999 versandt und ist bei der Beklagten nach eigenen Angaben am 10. Februar 1999 eingegangen. Im Zeitpunkt, in welchem die Klägerin das Ausweisungsbegehren vor dem Einzelrichter im summarischen Verfahren rechtshängig machte, am 17. Februar 1999, war deshalb das Verfahren über die Zulässigkeit der Kündigung vor der Schlichtungsbehörde nicht mehr hängig; eine Überweisung durch die Schlichtungsbehörde an den Ausweisungsrichter wäre nicht mehr möglich gewesen. Eine solche hätte lediglich noch durch den Einzelrichter im beschleunigten Verfahren erfolgen können, falls die Beklagte zuvor gegen den Entscheid der Schlichtungsbehörde geklagt hätte. Zwar besteht zwischen der Frist von Art. 274f Abs. 1 OR und dem Zeitpunkt des Entscheids der Schlichtungsbehörde eine Lücke, da in der Zeitspanne zwischen der Entscheideröffnung und der Anrufung des Richters oder deren Unterlassung ein Ausweisungsbegehren gestellt werden kann (Higi, Zürcher Kommentar, 1996, N. 49 zu Art. 274g OR). Doch ist zu berücksichtigen, dass es unter der Herrschaft der Dispositionsmaxime den Parteien frei steht, einen Entscheid der Schlichtungsbehörde zu akzeptieren oder ihn weiterzuziehen, und es auch trotz der beschränkten Untersuchungsmaxime im Mietrecht nicht dem Ausweisungsrichter obliegt, nach nicht hängigen Verfahren zu forschen. Will im Fall, in welchem in der Zeitspanne zwischen Entscheideröffnung durch die Schlichtungsbehörde und Anrufung des Richters nach Art. 274f Abs. 1 OR kein Verfahren hängig ist, eine Partei das Kündigungsschutzbegehren im zwischenzeitlich angehobenen Ausweisungsverfahren beurteilt wissen, gebietet es die Mitwirkungspflicht der Parteien, dies dem Richter mitzuteilen bzw. diesen anzurufen. Denn die Untersuchungsmaxime geht nicht so weit, dass der Ausweisungsrichter verpflichtet wäre, die Partei anzufragen, ob sie den Entscheid der Schlichtungsbehörde weiterziehen wolle (vgl. auch Higi, a.a.O., N. 49 und 51 zu Art. 274g). War somit im Zeitpunkt des Entscheides des Ausweisungsrichters, am 22. März 1999, das Kündigungsschutzverfahren nicht mehr hängig bzw. der Entscheid der Schlichtungsbehörde vom 4. Februar 1999 in Rechtskraft erwachsen, hatte der Ausweisungsrichter nicht auch über die Wirkungen der Kündigung nach Art. 257d OR zu befinden (vgl. Higi, Zürcher Kommentar, 1996, N. 58 zu Art. 257d OR). Damit waren widersprüchliche Entscheide von Ausweisungs- und Kündigungsbehörde nicht mehr denkbar (vgl. BGE 119 II 141, E. 4a, S. 143 sowie Higi, a.a.O., N. 58 zu Art. 257d OR).

Im vorderrichterlichen Verfahren beantragte die Beklagte mit Klageantwort vom 17. März 1999 die Abweisung des klägerischen Ausweisungsbegehrens. Zur Begründung führte sie aus, sie habe gegen die ausstehende Mietzinsforderung der Klägerin verrechnungsweise Gegenforderungen geltend gemacht. Die Beklagte machte demnach geltend, die Kündigung des Mietverhältnisses gemäss Art. 257d OR durch die Klägerin sei nicht rechtens. Damit konnte sie im vorderrichterlichen Verfahren indessen nicht gehört werden. Denn die Zuständigkeit des Ausweisungsrichters zur Überprüfung der Zulässigkeit der Kündigung und des Ausschlusses der Erstreckung des Mietverhältnisses hätte nur durch die Beklagte herbeigeführt werden können, indem sie nach Art. 273 Abs. 5 bzw. Art. 274f OR innert 30 Tagen seit Zustellung des schlichtungsbehördlichen Entscheides vom 4. Februar 1999 den Einzelrichter im beschleunigten Verfahren hätte anrufen müssen, der dann die Sache dem Ausweisungsrichter im summarischen Verfahren hätte überweisen müssen. Nach Ablauf dieser 30-tägigen Frist kann der Ausweisungsrichter aber dem Ausweisungsbegehren stattgeben (Higi, a.a.O., N. 49 zu Art. 274g OR). Denn mit Ablauf der Frist zur Anhängigmachung der Klage wird der Entscheid der Schlichtungsbehörde von Bundesrechts wegen rechtskräftig (Higi, Zürcher Kommentar, 1996, N. 140 zu Art. 273 OR und N. 81 zu Art. 274f OR). Dies war vorliegend bereits im Zeitpunkt der Klageantwort vom 17. März 1999 der Fall, da der Beklagten dieser Entscheid am 10. Februar 1999 zugegangen war und sie gegen diesen Entscheid vor dem Einzelrichter im beschleunigten Verfahren keine Klage eingereicht hatte. Es war dem Ausweisungsrichter somit verwehrt, auch über die Zulässigkeit der Kündigung bzw. die Gegenforderungen der Beklagten zu befinden.

c) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Ausweisungsrichter für die Beurteilung der Zulässigkeit der Kündigung und der Erstreckung des Mietverhältnisses nicht zuständig war. Der Vorderrichter durfte und musste aufgrund des rechtskräftigen Entscheides der Schlichtungsbehörde vom 4. Februar 1999 davon ausgehen, dass die Kündigung im Sinne von Art. 257d OR zu Recht erfolgt sei und hatte lediglich über die Ausweisung zu befinden. Daher ist der Rekurs der Beklagten abzuweisen und die angefochtene Verfügung vom 22. März 1999 zu bestätigen.

...

4. Beim vorliegenden Ausweisungsbefehl handelt es sich um ein Sachurteil mit unbeschränkter Rechtskraftwirkung. Damit liegt ein Endentscheid im Sinne von § 48 Abs. 1 OG vor, und der Beklagten steht als Rechtsmittel die Berufung an das Bundesgericht offen, sofern der Streitwert wenigstens Fr. 8000.– beträgt (Art. 46 OG; BGE 122 III 92, E. 2b, S. 94).

Für das Ausweisungsverfahren gilt nach der Praxis des Bundesgerichts der in der streitigen Periode fällig werdende Mietzins als Streitwert (BGE 104 II 270, E. 1, S. 273; Higi, a.a.O., N. 72 zu Art. 274g OR). Die «streitige Periode» beginnt im Ausweisungsverfahren in jenem Zeitpunkt, auf den der Beklagte nach Ansicht der klagenden Partei das Mietobjekt hätte verlassen müssen, und sie endet am Tage, auf den der Vermieter das Mietverhältnis ordentlicherweise hätte auflösen können, falls sein Begehren erstinstanzlich abgewiesen worden wäre (BGE 111 II 384, E. 1, S. 385f., 119 II 147, E. 1, S. 148f.).

Im vorliegenden Verfahren sprach die Klägerin die Kündigung auf den 31. Dezember 1998 aus. Als Stichtag für die Beurteilung der Frage, auf welchen Termin die Klägerin ordentlicherweise hätte kündigen können, gilt der Zeitpunkt des erstinstanzlichen Entscheids, somit der 22. März 1999. Die Klägerin hätte den Mietvertrag frühestens mit einer Frist von sechs Monaten auf einen ortsüblichen Termin oder, wenn es keinen Ortsgebrauch gibt, auf Ende einer dreimonatigen Mietdauer ordentlich kündigen können (Art. 266d OR). Da der monatliche Mietzins Fr. 2500.– beträgt, beläuft sich der in der «streitigen Periode» fällig werdende Mietzins offensichtlich auf mehr als Fr. 8000.–, weshalb der Streitwert für die Berufung an das Bundesgericht erreicht ist.

(Beschluss vom 29.9.1999; KG 155/99 RK 1).

(Zwischenzeitlich vom Schweizerischen Bundesgericht bestätigt).

  

26

Zivilrecht

 Zur Sicherung eines altrechtlichen Gewinnanspruches nach Art. 218quinquies aOR kann sich der Verkäufer auf Art. 34 BGBB berufen und gestützt auf Abs. 3 dieser neurechtlichen Bestimmung die vorläufige Eintragung des Gewinnanspruches ohne das Einverständnis des Eigentümers vormerken lassen.

Aus den Erwägungen:

1. Der Beschwerdeführer macht geltend, der altrechtliche gesetzliche Gewinnanspruch nach Art. 218quinquies aOR könne auf einseitiges Gesuch hin durch eine Vormerkung nach neuem Recht gemäss Art. 34 Abs. 3 BGBB gesichert werden. Der Beschwerdegegner hält dagegen, eine solche Sicherung bedürfe auch der Zustimmung des belasteten Grundeigentümers.

2. Art. 34 BGBB betrifft die Sicherung des Gewinnanspruches der Miterben und sieht vor, dass die Vormerkung auf einseitiges Begehren des Berechtigten erfolgt. Dagegen bezieht sich das Gewinnanspruchsrecht im Sinne von Art. 41 BGBB auf jeden Veräusserer eines landwirtschaftlichen Gewerbes oder Grundstückes, ist vertraglicher Natur und wird den Bestimmungen über den Gewinnanspruch der Miterben nach Art. 28ff. BGBB unterstellt (Art. 41 Abs. 1 BGBB).

Der Gewinnanspruch des Beschwerdeführers beruht auf Art. 218quinquies aOR, wonach der Verkäufer Anspruch auf den Gewinn hat, wenn ein Grundstück, das er auf einen Erben übertragen hat, weiterveräussert oder enteignet wird. Er besteht demnach von Gesetzes wegen, basiert also nicht auf einem Vertrag. Mit öffentlich beurkundetem, zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn geschlossenen Kaufvertrag vom 5. Februar 1991 wurde auf der Kaufliegenschaft das Gewinnanspruchsrecht gemäss Art. 218quinquies aOR zugunsten des Beschwerdeführers zur Vormerkung angemeldet.

Der Gewinnanspruch des Beschwerdeführers behält unter dem neuen BGBB seine Gültigkeit (Art. 94 Abs. 3 BGBB). Dies gilt auch für den Gewinnanspruch im Anschluss an den Verkauf an einen Präsumtiverben im Sinne von Art. 218quinquies aOR (vgl. BBl 1988, III 1067, Botschaft zum BGBB). Soweit vertraglich nichts Abweichendes vereinbart worden ist, richten sich jedoch Fälligkeit und Berechnung nach dem Recht, das im Zeitpunkt der Veräusserung gilt (Art. 94 Abs. 3 Satz 2 BGBB). Die nach altem Recht, also vor dem 1. Januar 1994 erfolgte Vormerkung bleibt rechtsgültig (vgl. Art. 17 Abs. 3; SchlTZGB Henny/Hotz/Studer, in Das bäuerliche Bodenrecht, 1995, N. 21 zu Art. 94 BGBB; Beeler, Bäuerliches Erbrecht, Diss. Zürich, 1998, S. 487). Da zudem der Gewinnanspruch des Beschwerdeführers nach Art. 218quinquies aOR im Zeitpunkt des Inkrafttretens des BGBB noch bestand, kann er im Sinne von Art. 34 BGBB durch die vorläufige Eintragung eines Pfandrechts gesichert werden, vorausgesetzt, dass die entsprechenden Bedingungen dieser Bestimmung erfüllt sind (Henny/Hotz/Studer, a.a.O., N. 22 zu Art. 94 BGBB; Beeler, a.a.O., S. 487). Da es sich in casu um einen gesetzlichen Gewinnanspruch handelte, kann offen bleiben, ob rein vertragliche, vor 1994 vereinbarte Gewinnansprüche eine Vereinbarung über die Vormerkung einer vorläufigen Eintragung des Grundpfandes voraussetzen, wenn das alte Recht keine derartige Sicherungsmöglichkeit vorsah (vgl. Henny/Studer/Hotz, a.a.O., N. 24 zu Art. 94 BGBB).

Nach dem Gesagten bleibt somit festzuhalten, dass der Beschwerdeführer seinen altrechtlichen Gewinnanspruch im Sinne von Art. 34 BGBB durch die vorläufige Eintragung eines Pfandrechts sichern kann, falls die Bedingungen dieser neurechtlichen Bestimmung erfüllt sind.

3. Zur Sicherung des neurechtlichen Gewinnanspruches bedarf es eines einseitigen Begehrens an das Grundbuchamt (Art. 34 Abs. 3 BGBB). Ein solches Begehren ist als einfacher Auftrag aufzufassen. Deshalb kann jeder der Miterben unabhängig von den anderen und ohne das Einverständnis des Eigentümers die vorläufige Eintragung des Gewinnanspruches vormerken lassen (Henny, in Das bäuerliche Bodenrecht, 1995, N. 9 zu Art. 34 BGBB).

Daran vermögen auch Art. 961 Abs. 2 ZGB und Art. 75 Abs. 1 GBV nichts zu ändern, wonach es für die Vormerkung vorläufiger Eintragungen der schriftlichen Einwilligung des Eigentümers und der übrigen Beteiligten bedarf. Denn mit dem BGBB wurde ein Spezialgesetz geschaffen mit der Folge, dass das Zivilgesetzbuch und das Obligationenrecht nur dort zum Zuge kommen, wo das BGBB keine abweichende Lösung enthält (vgl. BBl 1988 III 967, Botschaft zum BGBB).

Schliesslich vermag auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer bereits vor Inkrafttreten des BGBB über einen bestehenden Gewinnanspruch verfügte, eine erneute Vormerkung nach neuem Recht nicht auszuschliessen. Denn zur Interessenwahrung bedarf der Beschwerdeführer einer nochmaligen Vormerkung nach heutigem Recht, bestand doch nach altem Recht lediglich eine solidarische Haftung des Erwerbers für den Gewinnanspruch (vgl. Henny/Studer/Hotz, a.a.O., N. 21 zu Art. 94 BGBB). Es ist nicht einzusehen, weshalb einem «altrechtlich Berechtigten» das neurechtliche Sicherungsrecht nicht zuzusprechen ist, zumal der Veräusserer nach Art. 218quinquies aOR dem Erwerber in der Regel einen Vorzugspreis einräumte (vgl. BGE 120 V 10, E. 4a, S. 13).

(Beschluss vom 26.4.1999; KG 456/98 RK 1).

 

 27

 Zivilrecht

 – Eine Grünhecke ist so anzulegen, dass sie auch im ausgewachsenen Zustand überall die Abstandsvorschriften einhält.

Aus den Erwägungen:

1. Der Kläger ist Eigentümer von GB 631 KTN 639 Reichenburg, die Beklagte Eigentümerin der südöstlich angrenzenden GB 704 KTN 596 Reichenburg. Entlang der gemeinsamen Grenze hat die Beklagte mit einem Abstand von ca. 0.5 m auf eine Länge von ca. 8 m eine Thuja-Hecke gepflanzt. Mit Schreiben vom 6. November 1996 verlangte der Beklagte, dass die neu gepflanzten Sträucher nicht höher als 1,2 m hoch werden dürften.

Am 6. September 1999 wurde ein Augenschein durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass die Thuja-Hecke eine Höhe bis 2 m aufwies und die Thuja-Stämme ca. 0.5 m von der Grenze gesetzt waren.

3. Gemäss § 57 Einführungsgesetz zum schweizerischen Zivilgesetzbuch vom 14. September 1978, EGzZGB; nGS 175) dürfen Einfriedungen mit einer Höhe von 1.20 m an die Grenze gestellt werden; Einfriedungen mit einer Höhe von mehr als 1.20 m bis 2 m dürfen bis einen halben Meter an die Grenze gestellt werden; für höhere Einfriedungen gilt der Grenzabstand des kantonalen Baugesetzes (Planungs- und Baugesetz vom 14. Mai 1987; nGS 493).

Einfriedungen können erstellt werden als Zäune, Mauern oder Grünhecken. Letztere unterscheiden sich von Bepflanzungen im Sinne von § 59 EGzZGB durch eine mehrdimensionale Anordnung, die eine Abgrenzung bezweckt. Dass Grünhecken nicht als Bepflanzungen, für welche der Abstand gemäss § 59 EGzZGB gilt (vgl. Waldis, Das Nachbarrecht, S. 129), zu qualifizieren sind, ergibt sich nicht nur aus der Natur der Sache, sondern auch aus der Systematik des kantonalen Nachbarrechts: Unter dem Marginale «II. Einfriedungen / 1. Erstellung und Unterhalt» führt § 56 II EGzZGB die Grünhecken auf, die jährlich zurückzuschneiden seien. So hat denn auch der Einzelrichter des Bezirkes Höfe im Entscheid vom 1. Oktober 1979 (EGV-SZ 1979, S. 71f.) die Thuja-Hecke als Einfriedung qualifiziert.

Strittig ist vorliegend, von welchem Teil der Thuja-Pflanze der Abstand zu messen ist. Die Beklagte geht offensichtlich davon aus, dass der Stamm massgeblich sei. Diese Ansicht ist unrichtig. Wegen des horizontalen Wachstums des Geästes verringert die Pflanze laufend den Grenzabstand. Sie muss darum so weit von der Grenze gesetzt werden, dass ihre Ausmasse die gesetzlichen Abstände bzw. Höhen wahrt. Es ist daher nicht zulässig, eine Grünhecke unmittelbar an die Grenze zu pflanzen, wenn deren Äste auf das Nachbargrundstück zu ragen kommen. Mit anderen Worten ist eine Grünhecke so anzulegen, dass sie im voraussichtlichen ausgewachsenen Zustand überall die Abstandsvorschriften erfüllt.

Im vorliegenden Fall ragen die Äste der 2 m hohen Thuja in den Grenzabstand, und die Beklagte hätte die Hecke auf der Westseite bis an den Stamm oder eine Höhe von 1.2 m zurückzuschneiden und unter der Schere zu halten. Die Klage erweist sich somit als begründet.

(Einzelrichter der March, SV 99 136 vom 7. September 1999).

  

28

Zivilprozessrecht

 Vollstreckung eines ausländischen Urteils (LugÜ); Werbeverbot im Internet.

Aus den Erwägungen:

1. Die angefochtene Verfügung ist im Befehlsverfahren zur Vollstreckung des rechtskräftigen Versäumungsurteils des Landesgerichts Feldkirch vom 20. Januar 1998 ergangen (§ 232 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 176 Ziff. 1 ZPO). Es handelt sich um eine Erledigungsverfügung im Vollstreckungsverfahren, weshalb der Rekurs dagegen zulässig ist (§ 204 Abs. 1 ZPO; vgl. Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 1997, N. 2 zu § 272 ZPO ZH). Der Streitwert ist unbestimmbar. Damit ist vorliegend die Nichtigkeitsbeschwerde ausgeschlossen (§ 215 ZPO). Die klägerische Eingabe vom 3. September 1998 ist deshalb nicht als Nichtigkeitsbeschwerde, sondern als Rekurs zu behandeln.

2. Die Schweizerische Eidgenossenschaft schloss mit der Republik Österreich am 16. Dezember 1960 einen Vertrag über die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen (SR 0.276.191.632), mit dessen Inkrafttreten der frühere zwischen diesen beiden Staaten geschlossene Vertrag vom 15. März 1927 grundsätzlich ausser Kraft gesetzt wurde (Artikel 16 des Vertrages vom 16. Dezember 1960). Dieser Staatsvertrag wird indessen durch das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, abgeschlossen in Lugano am 16. September 1988 (nachfolgend: LugÜ; SR 0.275.11), in Bezug auf die Rechtsgebiete ersetzt, auf welche das LugÜ anzuwenden ist (vgl. Art. 55 i.V.m. Art. 54 Abs. 2, Art. 56 LugÜ und Art. 1 LugÜ). Demnach gelangen vorliegend die Bestimmungen des LugÜ zur Anwendung.

3. a) Die in einem Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Vertragsstaat vollstreckbar sind, werden in einem anderen Vertragsstaat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag eines Berechtigten für vollstreckbar erklärt worden sind (Art. 31 LugÜ). Die örtliche Zuständigkeit wird durch den Wohnsitz des Schuldners bestimmt (Art. 32 Abs. 2 LugÜ).

Unter Vollstreckbarerklärung ist ein Entscheid zu verstehen, in dem festgehalten wird, dass ein ausländisches Urteil, weil die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind, in der Schweiz anerkannt ist und es hier rechtlich relevante Wirkungen zu entfalten vermag (Volken, in IPRG Kommentar, 1993, N. 10 zu Art. 28 IPRG). Die Vollstreckung dagegen betrifft die Zurverfügungstellung von Zwangsmitteln zur Durchführung des Entscheides (Schwander, Einführung in das internationale Privatrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1990, Rz. 693) bzw. die zwangsweise Verwirklichung eines Leistungsurteils. Dies bedeutet, dass ein staatliches Organ der Zwangsvollstreckung in Ausübung seiner hoheitlichen Befugnisse tätig wird, um einem Schuldner gegenüber ein gerichtliches Urteil, eine gerichtlich angeordnete Leistungspflicht durchzusetzen. Dies geschieht etwa dadurch, dass dem Schuldner eine bestimmte Sache mit Polizeigewalt weggenommen wird, um sie dem Berechtigten zu übergeben (Volken, a.a.O., N. 8 zu Art. 28 IPRG mit Verweis auf die Literatur).

b) aa) Da der Beklagte seinen Wohnsitz in ... hat, ist der Einzelrichter ... für die Vollstreckbarerklärung wie auch für die Vollstreckung des Versäumungsurteils des Landesgerichts Feldkirch vom 20. Januar 1998 zuständig.

bb) Der Vorderrichter hat das Versäumungsurteil des Landesgerichts Feldkirch zu Recht als vollstreckbar erklärt, da die betreffenden Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Leuenberger, in AJP 8/92, S. 969 und angef. Verfügung, S. 5, Ziff. 3, lit. A–C). Er hat indessen die Vollstreckbarerklärung im Urteilsdispositiv nicht festgehalten, wie dies die Klägerin in Antrag Ziffer 1 verlangt hat.

Das in Art. 31ff. LugÜ geregelte Exequaturverfahren bezweckt, das ausländische Urteil für vollstreckbar zu erklären. Dies geschieht durch die sog. Vollstreckbarkeits- oder Exequaturklausel (vgl. Botschaft zum LugÜ vom 21. Februar 1990, BBl 1990, II 265ff., S. 326). Das LugÜ geht grundsätzlich bei Urteilen, die nicht auf eine Geldleistung lauten, von einem Exequatur- und einem Vollstreckungsverfahren aus (vgl. BBl 1990, II, S. 327; Walder, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, in Das Lugano-Übereinkommen, Hrsg. Ivo Schwander, St. Galler Studien zum internationalen Recht, St. Gallen 1990, S. 148; Stoffel, SZW 1993, S. 107ff.). Das schwyzerische Prozessrecht ging bis anhin von einer inzidenten Vollstreckbarkeitsprüfung aus; das heisst, der positive Vollstreckungsentscheid enthielt auch den Exequaturentscheid, weshalb § 230 Abs. 2 ZPO als Ausnahme auch die Möglichkeit vorsieht, auf Begehren einer Partei über die Frage der Vollstreckbarkeit einen besonderen Entscheid zu treffen. Verlangt eine Partei einen separaten Exequaturentscheid über die Vollstreckbarkeit von Entscheiden, die nicht auf Geldzahlung lauten, steht angesichts der vorgenannten Regelung im LugÜ und in § 230 ZPO einem solchen Begehren nichts im Wege, zumal – nach Zürcher Praxis – selbst bei einheitlichem Vollstreckungsbegehren der Entscheid über die Vollstreckung bis zum Eintritt der Rechtskraft der Vollstreckbarkeitserklärung ausgesetzt werden kann (vgl. ZR 90/1991, Nr. 35). Der Rekurs ist daher insoweit gutzuheissen, und es ist festzustellen, dass das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 20. Januar 1998 vollstreckbar ist.

4. Die Klägerin bringt vor, Dispositiv-Ziffer 2 der angefochtenen Verfügung, wonach dem Beklagten befohlen werde, bei der Werbung im Internet für die aufgeführten Produkte den Hinweis anzubringen, dass im Hoheitsgebiet der Republik Österreich diese Produkte nicht erhältlich seien, widerspreche dem Inhalt des Versäumungsurteils des Landesgerichts Feldkirch vom 20. Januar 1998 wie auch der Dispositiv-Ziffer 1.1 der angefochtenen Verfügung. Danach sei dem Beklagten ausdrücklich verboten worden, zumindest in Österreich für die fraglichen Produkte Werbung zu betreiben. Die vom Vorderrichter dem Beklagten eingeräumte Möglichkeit, weiterhin auf österreichischem Hoheitsgebiet im Internet präsent zu sein, mache das in Dispositiv-Ziffer 1.1 der angef. Verfügung ausgesprochene Werbeverbot illusorisch. Durch den Hinweis, dass im Hoheitsgebiet der Republik Österreich diese Produkte nicht erhältlich seien, würden die Produkte erst recht interessant. Deshalb müsse dem Beklagten jegliche Werbung, auch jene über Internet, auf dem Hoheitsgebiet der Republik Österreich verboten werden. Dies könne dadurch erfolgen, dass der Beklagte auf die Internet-Werbung grundsätzlich, also weltweit verzichte, oder mit sämtlichen Providern auf dem Hoheitsgebiet der Republik Österreich eine Vereinbarung treffe, wonach seine Internet-Werbung für die fraglichen Produkte gesperrt bzw. der Zugriff auf seine Web-Sites durch österreichische Internet-Benutzer verunmöglicht werde.

Der Beklagte hält dagegen, es sei technisch undurchführbar, die beklagtische Internet-Werbung nur für die Republik Österreich zu sperren bzw. den Zugriff auf die Web-Sites des Beklagten durch österreichische Internet-Benutzer zu verunmöglichen. Das klägerische Begehren könne deshalb nur so aufgefasst werden, dem Beklagten solle weltweit verboten werden, für seine Produkte im Internet zu werben, was aus rechtsstaatlichen Gründen nicht erlaubt sei.

a) Eines der hervorragenden Merkmale des Internet ist seine Globalität. Es ist mit all seinen Inhalten international in fast jedem Land der Erde verfügbar. Wo die Informationen eingespiesen werden, spielt keine Rolle mehr. Eine Web-Site in Australien lässt sich genauso einfach abrufen wie ein Internet-Angebot aus der Schweiz. Oft ist nicht einmal sicher, ob eine Web-Site wirklich in der Schweiz steht, selbst wenn ihr Domain-Name mit «.ch» endet (Rosenthal, Projekt Internet, 1997, S. 203).

Es ist zwar technisch möglich, den Zugriff auf ein Internet-Angebot eines Providers für (die Mehrheit der) Benutzer aus einem bestimmten Land ganz zu sperren. Dazu wird die Adressnummer des Benutzerrechners verwendet (Rosenthal, a.a.O., S. 211). Die Klägerin verlangt aber die Verpflichtung sämtlicher Provider im Hoheitsgebiet der Republik Österreich, die beklagtische Web-Sites für alle österreichische Internet-Benutzer zu sperren. Eine solche Massnahme wäre indessen nicht verhältnismässig (vgl. Frank/Sträuli/Messmer, a.a.O., N. 1a zu § 306 ZPO ZH), zumal damit nicht verhindert werden könnte, dass österreichische Internet-Benutzer sich über einen Rechner im Ausland auf die beklagtischen Web-Sites schalten lassen, was über spezielle Internet-Dienste für solche Zwecke relativ einfach möglich ist (vgl. Rosenthal, a.a.O., S. 211). So kann etwa ein Provider in Österreich sein Internet-Angebot auch auf einem Web-Server auf den Cayman-Inseln «off-shore» zur Verfügung stellen. Der geographische Standort des Computers für den Abrufer ist daher nicht relevant; er muss lediglich die richtige Adresse eintippen und wird sodann verbunden (Rosenthal, Das auf unerlaubte Handlungen im Internet anwendbare Recht am Beispiel des Schweizer IPR, in AJP 11/97, S. 1341). Kommt hinzu, dass jederzeit neue österreichische Provider auf den Markt treten können und ihrerseits eine Sperre veranlassen müssten.

Noch weniger entspräche es dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, wenn in jedem österreichischen Haushalt mit Internetanschluss eine Sperre für die Web-Sites des Beklagten installiert würde, zumal die Anzahl solcher Haushalte ständig zunimmt. Solche Sperren eignen sich dagegen für Unternehmen, die verhindern wollen, dass ihre Mitarbeiter bestimmte, zum Beispiel gefährliche Daten aus dem Internet abrufen können (Rosenthal, Projekt Internet, S. 7).

b) Nach dem Gesagten könnte das Verbot, jegliche Werbung, auch jene über Internet, auf dem Hoheitsgebiet der Republik Österreich mit verhältnismässigem Aufwand nur durchgesetzt werden, wenn dem Beklagten weltweit verboten würde, für seine Produkte im Internet zu werben.

Aufgrund der Anerkennung im Sinne von Art. 26 ff. LugÜ können einem Urteil im Inland nicht mehr Wirkungen als im Urteilsstaate beigelegt werden. Das Urteil des Vollstreckungsrichters kann somit keinesfalls weitergehen als das zu vollstreckende Urteil selber.

Das Versäumungsurteil des Landesgerichts Feldkirch hält zwar nicht ausdrücklich fest, dass seine Wirkungen auf das Hoheitsgebiet von Österreich zu beschränken sind. Doch kann aus diesem Urteil eine auf Österreich beschränkte Wirkung abgeleitet werden, denn einerseits beruht das Urteil lediglich auf nationalem österreichischem Recht; offenbar wurde das österreichische Arzneimittelgesetz und UWG verletzt, womit aber noch lange nicht feststeht, dass der Beklagte auch gegen Rechtsnormen anderer Länder verstösst, wenn er dort für seine Arzneimittel wirbt, diese bereithält, abgibt oder vertreibt. Andererseits ist in der Urteilserkenntnis die Rede vom «Bundesministerium für Gesundheit und Konsumentenschutz», vom Verbot, die fraglichen Arzneimittel «für die Abgabe im Inland bereitzuhalten» und von der Veröffentlichung des Urteils «in einer Gesamtausgabe der Tageszeitung Neue Kronen-Zeitung» (vgl. Dispositiv-Ziffer 1.1, 1.3 und 2.), woraus sich ebenfalls die auf Österreich beschränkte Wirkung ergibt. Darüber hinaus ist ein inländisches Gericht nicht befugt, den Wirkungsbereich eines Verbots über seine Grenzen hinaus festzulegen, da jeder Staat über die selbständige, höchste Staatsgewalt verfügt, die sich insbesondere auch in der Justiz manifestiert (vgl. Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1988, Rz. 158). Deshalb ist es unzulässig, dem Beklagten weltweit zu verbieten, für seine Produkte im Internet zu werben.

c) Ob insbesondere der Internetvertrieb von ... nach materiellem schweizerischem Recht zulässig ist oder nicht, ist vorliegend ohne Belang und kann deshalb offen bleiben. Denn in diesem Verfahren ist lediglich die Vollstreckung des Versäumungsurteils des Landesgerichts Feldkirch vom 20. Januar 1998 zu prüfen und anzuordnen. Die materielle Prüfung dieses Urteils nach schweizerischem oder österreichischem Recht bildet dagegen nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

d) Nach Dispositiv-Ziffer 1 der angefochtenen Verfügung wird dem Beklagten jegliche Werbung im Hoheitsgebiet der Republik Österreich verboten. Es trifft deshalb zu, dass der vom Vorderrichter in Dispositiv-Ziffer 2 des gleichen Entscheides verfügte Befehl, wonach der Beklagte bei der Werbung im Internet für die fraglichen Arzneimittel den Hinweis anzubringen habe, dass im Hoheitsgebiet der Republik Österreich diese Produkte nicht erhältlich seien, mit dem vorerwähnten absolut formulierten Verbot nicht genau korreliert. Doch lässt sich dieser Umstand unter Beachtung des Souveränitätsgrundsatzes mit einer verhältnismässigen Anordnung nicht beheben, weshalb die Formulierung in Dispositiv-Ziffer 2 der angefochtenen Verfügung als einzig sachgerechte Lösung zu betrachten ist.

(Beschluss vom 7.6.1999; KG 367/98 RK 1).

  

29

Zivilprozessrecht

 Rechtsbehelf bei superprovisorischer Verfügung ist nur die Einsprache.

Aus den Erwägungen:

Der Rekurs richtet sich gegen die Verfügung des Einzelrichters vom 28. Januar 1999, mit welcher dieser die am 21. Januar 1999 superprovisorisch verfügten Anordnungen vollumfänglich und mit sofortiger Wirkung aufgehoben hat. Er hielt – nach Anhörung des Beklagten – die Glaubhaftmachung der klägerischerseits geltend gemachten Ansprüche nicht für gegeben, weshalb sich eine Aufrechterhaltung der am 21. Januar 1999 verfügten Massnahmen nicht mehr rechtfertigen lasse. Der Vorderrichter hält in Dispositiv-Ziffer 3 fest, dass gegen diesen Entscheid kein ordentliches Rechtsmittel gegeben sei.

Die Klägerin hält demgegenüber dafür, es sei das Rechtsmittel des Rekurses nach § 204 ZPO zulässig. Das für arbeitsrechtliche Streitigkeiten vorgesehene beschleunigte Verfahren richte sich nach den Vorschriften des ordentlichen Verfahrens (§ 188 ZPO). Für die vorsorglichen Massnahmen gelte somit § 99 ZPO in Verbindung mit § 176 ZPO. Bei den fraglichen Verfügungen handle es sich um Erledigungsverfügungen, womit gegen die angefochtene Verfügung der Rekurs nach § 204 ZPO, allenfalls nach § 203 Ziff. 1 und Ziff. 4 ZPO gegeben sei.

Wie die Klägerin richtig festhält, richten sich im ordentlichen Verfahren die vorsorglichen Massnahmen nach § 99 ZPO. Vorgängig zum Entscheid über die provisorische Massnahme kann sofort und ohne Anhörung der Gegenpartei eine vorläufige Anordnung ergehen, welche gemeinhin als superprovisorische Verfügung bezeichnet wird. Das Institut der superprovisorischen Verfügung ist für das schwyzer Prozessrecht in § 79 GO geregelt. Im Gegensatz zum Zürcher Prozessrecht, das in § 110 Abs. 2 ZPO  ZH eine Bestimmung über superprovisorische Massnahmen enthält, hat der Gesetzgeber in § 99 ZPO darauf verzichtet, eine entsprechende Regelung aufzunehmen, offenbar in der Meinung,  § 79 GO räume dem Richter die Möglichkeit zum Erlass vorläufiger Verfügungen bereits ein (EGV-SZ 1985, Nr. 38, E. 3c).

Nach § 79 Abs. 1 GO trifft der Gerichtspräsident in dringlichen Fällen vorsorgliche Massnahmen. Absatz 2, der fast wörtlich mit § 110 Abs. 2 ZPO ZH übereinstimmt, ordnet an, mit Erlass der vorsorglichen Massnahme setze der Präsident den Beteiligten eine Frist von höchstens 10 Tagen zur Einsprache an das Gericht an, unter der Androhung, dass es im Säumnisfall bei der vorläufigen Anordnung sein Bewenden habe. Die Rechtsfolge der Einsprache gegen eine superprovisorische Massnahme besteht grundsätzlich darin, dass der einstweilige Massnahmeentscheid dahinfällt und der Richter das Verfahren, das in einen definitiven Massnahmeentscheid mündet, einzuschlagen hat (EGV-SZ 1985, Nr. 38, E. 3c).

Einziges Rechtsmittel gegen eine ohne Anhörung der Gegenpartei verfügte superprovisorische Massnahme ist die Einsprache (so auch für das Zürcher Recht, Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl., N. 73 zu § 110 ZPO ZH). Geht eine Einsprache ein, so bleibt die Massnahme bestehen, bis der Richter über die Aufrechterhaltung der Massnahme entschieden hat. Hiezu hat er grundsätzlich – bei entsprechendem Antrag – das Verfahren weiterzuführen, welches zu einem definitiven Entscheid über die vorsorgliche Massnahme führt. Gegen den definitiven Massnahmeentscheid ist in der Folge der Rekurs gegeben (§ 203 Ziff. 4 ZPO).

Wie auch das Obergericht des Kantons Zürich ausführt, sind der Erlass oder die Verweigerung von superprovisorischen Anordnungen durch den Einzelrichter weder mittels Rekurs noch mittels Nichtigkeitsbeschwerde anfechtbar (vgl. ZR 87/1988, Nr. 93). Auch der von einer superprovisorischen Anordnung belastete Gesuchsgegner hat nur die Einsprache und nicht auch die Nichtigkeitsbeschwerde zur Verfügung. Dies gilt nach Zürcher Praxis sowohl in Fällen, wo die Einsprache den Eintritt der Rechtskraft einer Anordnung hindert, als auch dort, wo die Anordnung trotz Einsprache in Kraft bleiben soll. Es wäre sachlich nicht gerechtfertigt – so das Zürcher Obergericht weiter –, dem Gesuchsteller, der mit dem Antrag auf Erlass superprovisorischer Massnahmen nicht durchdringt, dagegen die Nichtigkeitsbeschwerde zur Verfügung zu stellen, dem vom Erlass einer solchen Anordnung betroffenen Gesuchsgegner das gleiche Rechtsmittel aber zu verweigern (ZR 87/1988, Nr. 93). Diese Ausführungen überzeugen und erweisen sich auch für die schwyzerische ZPO als angemessen. Die Ansicht, wonach die Ablehnung einer vorläufigen Anordnung in weiter Auslegung von § 203 Ziff. 4 ZPO ebenfalls rekursfähig sein soll, vermag nicht zu überzeugen (vgl. Martin Ziegler, in SJZ 86/1990, S. 323). Anders verhält es sich hingegen, wenn mit der Ablehnung der Anordnung von superprovisorischen Massnahmen gleichzeitig auch die vorsorglichen Massnahmen abgewiesen werden; diesfalls ist der die vorsorglichen Massnahmen ablehnende Entscheid rekursfähig. Überdies ist anzufügen, dass vorsorgliche Massnahmen nach verbreiteter Auffassung der Rechtskraft nicht fähig sind (Stephen V. Berti, Die vorsorglichen Massnahmen im Zivil-, Verwaltungs- und Strafverfahren, ZSR 1997, S. 229 mit Verweis), was zur Folge hat, dass ein Gesuch – unter Berücksichtigung der zulässigen Noven – erneuert werden kann (Stephen V. Berti, a.a.O., S. 230; Guldener, Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 585).

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass gegen den Erlass oder die Verweigerung der Anordnung von superprovisorischen Anordnungen – mit Ausnahme der Einsprache beim erkennenden Richter – kein Rechtsmittel, d.h. weder Rekurs noch Nichtigkeitsbeschwerde, gegeben ist. Mit Rekurs anfechtbar ist indessen ein Entscheid über die Verweigerung oder Gewährung von vorsorglichen Massnahmen.

(Beschluss vom 13.4.1999; KG 72/99 RK 1).

  

30

Strafrecht

 Eine landwirtschaftlich genutzte Wiese ist Kulturland und darf nach kantonalem Recht nicht von Hunden betreten werden.

Aus den Erwägungen:

2. Gegenstand der Nichtigkeitsbeschwerde ist nurmehr der Vorfall vom 1. Mai 1998. Aufgrund dieses Vorfalles hat der Einzelrichter die Angeklagte wegen Nichtbefolgens der Anleinepflicht (§ 2 Abs. 1 GHH) sowie wegen Nichtbeachtens des Verbotes, einen Hund landwirtschaftliche Kulturen betreten zu lassen (§ 3 Abs. 2 GHH) schuldig erkannt. In den Erwägungen hat er festgehalten, dass die drei verschiedenen Zeugenaussagen, wonach die Angeklagte ihren Hund nicht an der Leine geführt habe und dass dieser Hund zusammen mit dem Hund eines Buben im Wiesland herumgesprungen sei, glaubwürdig seien. Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass sich die Verletzung der Anleinepflicht nicht halten lasse, wenn sie ihren Hund auf dem Wiesland links und rechts des Weges laufen lassen durfte. Deshalb ist zunächst zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin ihren Hund auf das Wiesland laufen lassen durfte.

3. Es ist untersagt, Hunde landwirtschaftliche Kulturen und fremdes, nicht öffentlich zugängliches Eigentum ohne Einwilligung des Berechtigten betreten zu lassen (§ 3 Abs. 2 GHH). Die Verteidigung meint, es sei nicht verboten, Hunde beaufsichtigt auf öffentlich zugänglichem Wiesland laufen zu lassen. Wiesland sei keine landwirtschaftliche Kultur. Die Staatsanwaltschaft hält dagegen, dass Wiesland eine landwirtschaftliche Kultur sei, da das Gras als Nahrungsmittel für das Vieh gesät, gedüngt und geerntet, mithin also eigens kultiviert werde.

a) Eine Definition des Begriffs landwirtschaftliche Kultur lässt sich dem kantonalen Recht und soweit ersichtlich auch dem Bundesrecht nicht entnehmen. Der Begriff wird im kantonalen Recht noch im Zusammenhang mit der Wildschadensverhütung verwendet (z.B. § 44 der kantonalen Jagd- und Wildschutzverordnung).

Im Raumplanungsrecht wird mit dem Begriff Kulturland die landwirtschaftliche Nutzfläche bezeichnet. Dazu gehören das Wies- und Ackerland, die Obst-, Rebbau- und Gartenbauflächen sowie die alpwirtschaftlichen Nutzflächen. Nicht dazu gehören bestockte Flächen, also Wald (Begriffe zur Raumplanung, VLP-Schrift Nr. 67, Bern 1996, S. 81). Nach Art.9 der landwirtschaftlichen Begriffsverordnung (SR 910.91) gilt als landwirtschaftliche Nutzfläche die pflanzenbaulich nutzbare Fläche eines Betriebes. Alpweiden werden in jener Bestimmung ausgenommen, da separate Sömmerungsbeiträge ausbezahlt werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch Alpweiden als landwirtschaftliche Nutzfläche im Sinne des raumplanungsrechtlichen Kulturlandbegriffs und damit auch als landwirtschaftliches Grundstück im Sinne des bäuerlichen Bodenrechts gelten (Hofer, BGBB-Kommentar, Brugg 1995, Art. 6, Rz 7f.).

Der Begriff Kultur, soweit ist der Beschwerdeführerin zuzustimmen, ist enger aufzufassen als die Begriffe Kulturland und landwirtschaftliche Nutzfläche. Kultur, verstanden als «Bebauung», bezeichnet den Zustand einer Bodenfläche und nicht deren mögliche Nutzbarkeit. Der Begriff umfasst gerade die natürlich gewachsene, wenn auch landwirtschaftlich nutzbare Vegetation nicht. Eine landwirtschaftliche Kultur setzt voraus, dass der Boden von Menschenhand in einem gewissen Umfang kultiviert ist, was etwa beim Anlegen eines Ackers ohne weiteres zu bejahen, bei einer Alpweide dagegen nicht der Fall ist. Bei Wiesland würde sich deshalb die Frage stellen, wie naturnah die Wiese ist, also ob es sich um eine Kunst- oder um eine Naturwiese handelt. Vorliegend kann diese Frage aber offen gelassen werden.

b) Aus den Materialien zum kantonalen Hundegesetz geht hervor, dass das Postulat, aufgrund dessen das Hundegesetz abgeändert wurde, die unhaltbaren Zustände der Verunreinigung von öffentlichen und privaten Plätzen und Wegen, Wiesen und Äckern sowie Kinderspielplätzen bekämpfen wollte (RRB Nr. 1916 v. 30.11.1982). Kantonsrat Steiner, Wilen, stellte in der Eintretensdebatte fest, dass die Vorlage bezwecke, die Verschmutzung der Strassen, Wege sowie der landwirtschaftlichen Kulturen einzuschränken (Verhandlungsprotokoll zur Sitzung vom 23. Juni 1983, S. 1878). Der zuständige Regierungsrat Kürzi hielt fest, dass das Gesetz auf dem Postulat basiere (ebd. S. 1879). Die vom Regierungsrat vorgeschlagene Fassung von § 3 Abs. 2 GHH bezüglich des Verbots, Hunde landwirtschaftliche Kulturen betreten zu lassen, gab weder in der vorbereitenden Kommission noch im Kantonsrat Anlass zu Diskussionen und wurde unverändert geltendes Recht. Mehr zu reden gab dagegen die Bestimmung von § 2 Abs. 2 GHH betreffend die Pflicht zur Beseitigung von Hundekot. Die vorbereitende Kommission wollte diese Pflicht auf Örtlichkeiten beschränken, welche gemäss der Strassengesetzgebung als innerorts gelten. Im Kantonsrat wurde an dieser Beschränkung nicht festgehalten, die Pflicht zur Beseitigung von Hundekot wurde vielmehr auch auf (nicht öffentliche) Wege ausgedehnt, die durch intensiv genutztes landwirtschaftliches Gebiet führen. Aus den Materialien geht nicht ausdrücklich hervor, ob die Pflicht zur Kotbeseitigung bewusst nur auf die Wegstrecken beschränkt wurde, weil man davon ausging, dass sich das Problem von Kotverschmutzungen auf dem landwirtschaftlich intensiv genutzten Boden nicht stellt, da Hunde gemäss § 3 Abs. 2 GHH landwirtschaftliche Kulturen schon gar nicht betreten dürfen. Davon ist aber auszugehen, da sich aus den Materialien für das Betretungsverbot keine andere Begründung ergibt, als dass damit der Verschmutzung von landwirtschaftlichen Kulturen durch Hundekot entgegengewirkt werden soll. Es soll so vermieden werden, dass, was allgemein bekannt ist, das Vieh durch mit Hundekot verschmutztes Futter (geschnittenes Gras, Heu) geschädigt werden könnte. Die gesetzgeberische Absicht, die Landwirtschaft vor Schäden durch Hundekot zu schützen, würde vereitelt, wenn Wiesland nicht unter den Begriff landwirtschaftliche Kulturen fiele, zumal im Kanton Schwyz vorwiegend Milchwirtschaft und nicht Ackerbau betrieben wird.

c) Aus all diesen Gründen ergibt sich, dass mit dem Begriff landwirtschaftliche Kulturen in § 3 Abs. 2 GHH auch Wiesland gemeint ist. Nicht von Bedeutung ist nach dem Willen des Gesetzgebers, ob es sich dabei um eine naturnahe Wiese oder um eine Kunstwiese handelt. Vorausgesetzt ist vielmehr, dass das Gras geschnitten und zur Fütterung des Viehs verwendet wird. Unbestrittenermassen wird das Wiesland, um das es im vorliegenden Fall geht, gemäht und wird zur Gewinnung von Viehfutter verwendet. Es handelt sich deshalb um eine landwirtschaftliche Kultur im Sinne von § 3 Abs. 2 GHH, welche man von Hunden nicht betreten lassen darf.

4. Inwiefern diese Interpretation des in § 3 Abs. 2 GHH statuierten Betretungsverbotes mit dem Bundesrecht vereinbar ist, muss im vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren nur in Hinblick auf die geltend gemachten tierschützerischen Belange geprüft werden.

a) Laut Art. 31 Abs. 1 der Tierschutzverordnung des Bundes (TSchV) müssen Hunde, die in Räumen gehalten werden, sich täglich entsprechend ihrem Bedürfnis bewegen können. Wenn möglich sollen sie Auslauf im Freien haben. Hunde, die angebunden gehalten werden, müssen sich in einem Bereich von wenigstens 20 m2 bewegen können (Art. 31 Abs. 2 TSchV).

b) Abgesehen davon, dass das Bundesrecht den Auslauf von Hunden im Freien nicht zwingend vorsieht, trifft es entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht zu, dass Hunde im Kanton Schwyz nirgends laufen gelassen werden können. Es ist Sache des Hundehalters dafür zu sorgen, dass ein Hund im Freien auslaufen kann, sei dies auf für den Auslauf von Hunden zur Verfügung gestelltem privaten Gelände oder etwa in kulturunfähigen, nicht bestockten Gebieten. Solchen Auslaufmöglichkeiten steht das Wiesland umfassende Betretungsverbot von § 3 Abs. 2 GHH nicht entgegen, weshalb es nicht nur mit den Tierschutzbestimmungen des Bundesrechts vereinbar, sondern auch verhältnismässig ist.

(Beschluss vom 5.5.1999; KG 62/99 RK 2).

  

31

Strafrecht

 Keine echte Idealkonkurrenz zwischen Art. 188 StGB einerseits und Art. 189 bzw. Art. 190 StGB andererseits.

Aus den Erwägungen:

Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, dass zwischen Art. 188 StGB einerseits und Art. 189 und 190 StGB andererseits Idealkonkurrenz anzunehmen sei. In der Lehre und Rechtsprechung wird zwischen Art. 187 StGB und den sexuellen Nötigungsdelikten von Art. 189 und 190 StGB wegen der Verschiedenheit der geschützten Rechtsgüter echte Konkurrenz angenommen (etwa Trechsel, a.a.O., Art. 187, Rz. 22; Jenny, a.a.O., Art. 187, Rz. 44; Maier, AJP 1997, S. 865 u. 868f.; Wiprächtiger, ZStR 1999, S. 151). Aufgrund der Gesetzessystematik – Art. 188 StGB gehört wie Art. 187 StGB zum ersten Abschnitt der strafbaren Handlungen gegen die Sittlichkeit – könnte man mit dem Staatsanwalt annehmen, dass Art. 188 StGB wie Art. 187 StGB die ungestörte sexuelle Entwicklung Unmündiger und damit ein anderes Rechtsgut als die Bestimmungen des zweiten Abschnittes (Art. 189–194 StGB), welche Angriffe auf die sexuelle Freiheit und Ehre zum Gegenstand haben, schützen, und deshalb zu diesen auch in echter Konkurrenz stünden. Trotz dieser gesetzlichen Systematik steht aber bei der Strafbestimmung von Art. 188 StGB der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung des Jugendlichen im Vordergrund (Trechsel, a.a.O., Art. 188, Rz. 1 mit Hinweisen) und die Lehre geht davon aus, dass in der Begehung einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung eine schwerere Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung liege als in der Ausnützung des Abhängigkeitsverhältnisses, sodass Art. 188 StGB insoweit zurücktreten müsse (vgl. Jenny, a.a.O., Art. 188, Rz. 20; Trechsel, a.a.O., Art. 188, Rz. 15; Rehberg/Schmid, Strafrecht III, 6. Aufl., Zürich 1994, S. 387f.; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, BT I, 5. Aufl., Bern 1995, § 7, Rz. 34). Dem Schutz der ungestörten Entwicklung des Kindes bis es die notwendige Reife erreicht hat, die es zur verantwortlichen Einwilligung in sexuelle Handlungen befähigt, hat der Gesetzgeber mit der Festsetzung des Schutzalters von 16 Jahren in Art. 187 StGB Rechnung getragen (BBl 1985 II 1065). Art. 188 StGB will dagegen der Tatsache Rechnung tragen, dass es dem noch unmündigen Opfer von über 16 Jahren in einem Abhängigkeitsverhältnis erschwert ist, einen Abwehrwillen zu bilden, was nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wie schon erwähnt, aber auch bei der Anwendung von Art. 189 und Art. 190 StGB zu berücksichtigen ist, da bei einem Erwachsenen-Kind-Gefälle geringere Anforderungen an das Nötigungselement zu stellen sind. Die Schwierigkeit, in einem Abhängigkeitsverhältnis einen Abwehrwillen zu bilden und geltend zu machen, betrifft ein Element der sexuellen Selbstbestimmung bzw. Freiheit und nicht ein Moment der ungestörten sexuellen Entwicklung. Letztere ist mit dem Erreichen des Schutzalters als abgeschlossen anzusehen. Das Merkmal der Minderjährigkeit schlägt sich denn auch nicht in der Strafandrohung nieder, da das Ausnützen der Abhängigkeit nach Art. 188 StBG gleichermassen mit Gefängnis bedroht ist wie das Ausnützen einer Notlage (Art. 193 StGB) oder sexuelle Handlungen mit Anstaltsinsassen (Art. 192 StGB; so Trechsel, a.a.O., Art. 188, Rz. 1). Aus all diesen Gründen besteht zwischen Art. 188 StGB und Art. 189 bzw. Art. 190 StGB entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft sowie der Vorinstanz keine echte Idealkonkurrenz, sodass der Schuldspruch der mehrfachen sexuellen Handlung mit Abhängigen aufzuheben ist.

(Urteil vom 31.8.1999; KG 279/97 SK).

  

32

Strafprozessrecht

 Fristenlauf; Auftrag des Empfängers an die Poststelle, für ihn bestimmte Sendungen zu lagern.

Aus den Erwägungen:

2. Trotz des klaren Wortlauts von § 146 Abs. 2 StPO, gemäss welcher Bestimmung in der Eingabe zu erklären ist, welche Abänderungen des angefochtenen Entscheides und welche Beweisergänzungen im Berufungsverfahren verlangt werden, und obwohl in der schwyzerischen Strafprozessordnung nicht vorgesehen, ist es bislang Praxis des Kantonsgerichtes, bei Fehlen von Berufungsanträgen dem Berufungserklärenden eine kurze Nachfrist zur Nachbesserung anzusetzen, unter der Androhung von Säumnisfolgen. Diese Nachfristansetzung erfolgt denn auch – im Gegensatz zur Nachfrist gemäss § 208 Abs. 2 ZPO (EGV-SZ 1994, Nr. 30, S. 30f.) – unabhängig davon, ob der Appellant anwaltschaftlich vertreten ist oder nicht.

a) Da es die Verteidigerin in ihrer Berufungserklärung vom 18. Dezember 1998 unterlassen hatte, gleichzeitig die Abänderungsanträge zu stellen, wurde ihr gemäss kantonsgerichtlicher Praxis eine nicht erstreckbare Nachbesserungsfrist angesetzt, unter der Androhung, dass im Unterlassungsfall auf die Berufung nicht eingetreten werde.

Entscheidend ist vorliegend demnach einzig die Frage, ob innerhalb der angesetzten, nicht erstreckbaren Nachfrist bis zum 8. Januar 1999 seitens der Berufungserklärenden rechtsgenügliche Anträge gestellt wurden.

b) Nachdem das Kantonsgericht Schwyz von der Poststelle B. am 22. Dezember 1998 dahingehend orientiert worden war, dass der bei der Poststelle Schwyz am 21.12.1998 aufgegebene und an die Verteidigerin adressierte eingeschriebene Brief nicht habe zugestellt werden können und dieser aufgrund eines Auftrages der Empfängerin vielleicht noch längere Zeit, höchstens 2 Monate, lagere, konnte auf eine Wiederholung der Zustellung im Sinne von § 115 Abs. 2 GO verzichtet werden, zumal mit einer neuerlichen – praxisgemäss umgehenden – Zustellung die bis zum 8. Januar 1999 angesetzte Nachfrist keine Änderung erfahren hätte. Kommt hinzu, dass für die Vorsitzende der Strafkammer keine Veranlassung bestanden hat, bloss aufgrund der erwähnten Mitteilung, die einmal mit Schreiben vom 21.12.1998 richterlich angesetzte und nicht erstreckbare Nachfrist zu widerrufen und eine neue Nachfrist anzusetzen, geschweige denn Nachforschungen bei der Post bezüglich des genauen Rückkehrdatums der Empfängerin zu tätigen.

c) Die Verteidigerin wendet ein, dass sie aufgrund einer mündlich erlangten Auskunft über den notwendigen Inhalt der Berufung und deren Verbindlichkeit nicht mit einer Nachbesserungsfrist, die in ihre Ferienabwesenheit gefallen sei, habe rechnen müssen.

aa) Dieser Argumentation kann das Kantonsgericht nicht beipflichten. Mit der Berufungserklärung entstand ein Prozessrechtsverhältnis, weshalb die Parteien dafür zu sorgen haben, dass ihnen Entscheide oder prozessleitende Verfügungen, welche das Verfahren betreffen, zugestellt werden können. Es wäre Sache der Verteidigerin gewesen, während ihrer Ferienabwesenheit die notwendigen Vorkehrungen zu treffen und sei es bloss mit einem entsprechenden Hinweis in der Berufungserklärung vom Dezember 1998. Solche Vorkehrungen hat sie zweifelsohne nicht getroffen. Diese Unterlassung erscheint umso unverständlicher, als die Verteidigerin laut ihrem Briefkopf offensichtlich in einer Bürogemeinschaft tätig ist, so- dass eine Ferienvertretung gewährleistet werden könnte. Dass solche Vorkehrungen – und sei es auch nur die Entgegennahme und Sichtung eingehender Anwaltskorrespondenz durch den Büropartner oder die Büropartnerin – in ihrem Arbeitsumfeld weder möglich noch zumutbar sind, hat die Verteidigerin nicht geltend gemacht.

bb) Nachdem sie persönlich für den Angeklagten die Berufung erklärt hatte, musste die Vertreterin mit Zustellungen seitens des Kantonsgerichtes rechnen. Relevant ist nicht, ob die Verteidigerin mit einer Nachbesserungsfrist, wie der vorliegenden, zu rechnen hatte, sondern, dass sie aufgrund des von ihr mit der Berufungserklärung begründeten Prozessrechtsverhältnisses generell mit fristauslösenden Zustellungen von Seiten der Berufungsinstanz rechnen musste.

d) Die Verteidigerin weist ferner darauf hin, dass ihre Sekretärin nicht den Weisungen entsprechend den Auftragszettel bezüglich Rückbehalt der Post ausgefüllt habe. Einerseits habe sie ein falsches Datum eingesetzt und andererseits ebenfalls fälschlicherweise den Vermerk angekreuzt, dass die Dauer der Abwesenheit Dritten nicht mitgeteilt werden dürfe. Wie ihre Weisung an die Sekretärin genau gelautet hatte, bleibt von der Verteidigerin in ihrer Stellungnahme indessen unerwähnt.

aa) Die Frage nach dem Verschulden einer Hilfsperson und damit einer möglichen Exkulpation des Vertreters stellt sich nur, sofern die Übertragung der betreffenden Tätigkeit durch den Anwalt auf die Hilfsperson überhaupt zulässig ist (ZR 84/1985, Nr. 136, E. 3c). War die Delegation grundsätzlich zulässig, wäre die Frage des Verschuldens der Hilfsperson und einer möglichen Exkulpation der Verteidigung zu prüfen. Diese Prüfung kann vorliegend aus nachfolgenden Gründen unterbleiben.

bb) Wie der von der Verteidigerin ins Recht gelegten Beilage «Auftrag Post zurückbehalten» zu entnehmen ist, war der Auftrag erteilt worden, die eingehende Post ab dem 21. Dezember 1998 bis zum 15. Januar 1999 zurückzubehalten und die Abwesenheit Dritten nicht mitzuteilen. Die Verteidigerin nahm ihre Post zwar nicht erst ab dem 15. Januar 1999 wieder entgegen, sondern bereits am 11. Januar 1999. Dennoch ändert dieser Umstand nichts daran, dass die kantonsgerichtliche Nachfrist bereits seit dem 9. Januar 1999 unbenutzt verstrichen war. Kommt hinzu, dass die Post dem Kantonsgericht die Abwesenheit der Adressatin mitgeteilt hatte, indessen weder das Kantonsgericht dazu gehalten war, Nachforschungen bezüglich des genauen Rückkehrdatums der Verteidigerin anzustellen, noch die Post dazu verpflichtet war, über die Standardmitteilung hinaus weitergehende Informationen mitzuteilen. Selbst wenn sich also die Verteidigerin exkulpieren könnte, würde dies an der verspäteten Nachfrist nichts ändern, nachdem die nicht erstreckbare Frist am 8. Januar 1999 ablief. Der Einwand der Verteidigung ist somit nicht zu hören.

3. Die Verordnung (1) vom 1. September 1967 zum Postverkehrsgesetz, welche in Art. 169 Abs. 1 Bst. d und e eine Abholfrist von sieben Tagen vorsah, wurde auf den 1. Januar 1998 durch die Postverordnung vom 29. Oktober 1997 (VPG; SR 738.01) abgelöst. Diese neue Postverordnung enthält indessen keine Bestimmung über allfällige Abhol- oder Aufbewahrungsfristen. Dagegen sieht die schweizerische Post in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen «Postdienstleistungen» vor, dass Sendungen als zugestellt gelten, wenn sie der Empfängerin oder dem Empfänger übergeben oder in den Brief- oder Ablagekasten oder ins Postfach gelegt oder an einem andern dafür bestimmten Ort zugestellt worden sind (Ziff. 4.1 AGB). Weiter ist laut Ziff. 4.5 Bst. a und b der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vorgesehen, dass die Post eine Abholungseinladung hinterlegt, wenn die Sendungen persönlich auszuhändigen sind, jedoch niemand anzutreffen ist, und die Inhaberin oder der Inhaber einer Abholungseinladung während einer Frist von sieben Tagen zum Bezug der darauf vermerkten Sendung berechtigt ist. Die gesetzliche Grundlage für diese Allgemeinen Geschäftsbedingungen findet sich in Art. 11 des Postgesetzes vom 30. April 1997 (PG; SR 783.00).

a) Im Entscheid vom 2. Dezember 1998 in der Beschwerdesache X. gegen die Fremdenpolizei der Stadt Thun und die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern kam das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zum Schluss, dass wegen der Rechtssicherheit und des Bedürfnisses nach klaren Fristenregelungen sowie gestützt auf die zitierten neuen Bestimmungen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post es angezeigt erscheine, die bisherige Praxis auch unter dem neuem Recht weiterzuführen. Eine nicht abgeholte Sendung gelte somit auch weiterhin am siebten Tage nach Hinterlegung der Abholungseinladung als zugestellt. Dieser Argumentation ist beizupflichten.

b) Da die Verteidigerin das Schreiben der Vizepräsidentin vom 21.12.1998, welches bei der Poststelle B. am 22. Dezember 1998 eingegangen ist, innert Frist nicht entgegengenommen hat, gilt diese Postsendung als am letzten Tag der siebentägigen Abholfrist, nämlich am 28. Dezember 1998, als zugestellt. Daran vermag auch ihr Auftrag an die Post in Zusammenhang mit ihrer Ferienabwesenheit nichts zu ändern (vgl. act. 6; BGE 123 III 492, Pr 76 (1987), Nr. 125).

(Beschluss vom 8.6.1999; KG 523/98 SK).

 

33

Strafprozessrecht

 Die speziellen Haftgründe Fluchtgefahr und Fortsetzungsgefahr.

Aus den Erwägungen:

Die Untersuchungshaft darf nur angeordnet oder aufrechterhalten werden, wenn und solange neben dem vorliegend aufgrund der Geständnisse des Angeschuldigten gegebenen allgemeinen Haftgrundes des dringenden Tatverdachts auch ein spezieller Haftgrund vorliegt. Die Untersuchungsrichterin beruft sich auf die speziellen Haftgründe der Fluchtgefahr sowie der Fortsetzungsgefahr.

a) Fluchtgefahr kann «insbesondere dann angenommen werden, wenn eine Zuchthausstrafe oder Verwahrung in Aussicht steht» (§ 26 Abs. 1 lit. a StPO). Fluchtgefahr ist gegeben, wenn die Gefahr besteht, der Angeschuldigte könnte sich der Strafverfolgung oder der zu erwartenden Strafe entziehen, beispielsweise durch heimlichen Ortswechsel, durch Absetzen ins Ausland oder durch Verbergen des Aufenthaltsortes. Es genügt nicht jede noch so entfernte Gefahr, sondern es müssen Gründe vorliegen, welche ein solches Verhalten als wahrscheinlich erscheinen lassen (vgl. dazu Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrechts, 3. A., S. 272; Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 2. A., Zürich 1993, N 700ff.; Donatsch/Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kts. Zürich, Rz. 26ff. zu § 58). Die lange Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann zwar als gewichtiges Indiz für eine Fluchtgefahr gewertet werden; für sich alleine genügt sie jedoch nicht. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Verhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 117 I a 70 mit Hinweisen).

Die konkreten Umstände sprechen vorliegend gegen die Annahme von Fluchtgefahr. Der Beschwerdeführer hat zwar laut seinen Angaben einen Onkel in Lusaka/Afrika und Verwandte und Bekannte in Jugoslawien sowie in der Slowakei. Der Lebensmittelpunkt des Beschwerdeführers befindet sich jedoch klar in der Schweiz. Seit 1990 lebt der heute knapp 20-jährige Angeschuldigte in der Schweiz. Bis zu seiner Inhaftierung wohnte er bei seinen Eltern in Z. oder bei einer Freundin in X. Es erscheint glaubhaft, dass er zu seinen hier lebenden Geschwistern ein enges Verhältnis hat. Er besitzt zudem die Niederlassungsbewilligung C. Die Gefahr, dass er im Falle einer Flucht seine Aufenthaltsbewilligung verlieren könnte, wird er kaum auf sich nehmen. Entscheidend ist sodann, dass der Beschwerdeführer im Herbst 1998 nach der erfolgten Ausschreibung nicht die Gelegenheit zur Flucht ergriffen, sondern sich den Behörden freiwillig gestellt hat. Dieser Umstand ist ein starkes, gegen Fluchtgefahr sprechendes Indiz (Donatsch/Schmid, a.a.O., Rz. 34). Seit 12. Januar 1999 – und damit seit mehr als drei Monaten – befindet sich A. in der Strafanstalt Wauwilermoos. Bekanntlich ist eine Flucht aus dieser offen geführten Strafanstalt ohne besondere Anstrengung möglich. Der Beschwerdeführer hat diese «Fluchtchance» nicht ausgenützt und damit den Tatbeweis dafür erbracht, dass für ihn eine Flucht ins Ausland oder ein Untertauchen nicht im Vordergrund steht. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass aufgrund der Aktenlage und der vorliegenden Geständnisse des Beschwerdeführers ohne weiteres ein Abwesenheitsverfahren durchgeführt werden könnte, weshalb eine weitere Inhaftierung unter dem Aspekt der Fluchtgefahr nicht erforderlich erscheint.

b) Die Untersuchungsrichterin stützt sich im Weiteren auf den speziellen Haftgrund der Fortsetzungsgefahr, welcher «insbesondere dann anzunehmen ist, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte befürchtet werden muss, der Angeschuldigte werde die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen missbrauchen» (§ 26 Abs. 1 lit. c StPO).

Bei der Anwendung des speziellen Haftgrundes der Fortsetzungsgefahr übt das Kantonsgericht eine gewisse Zurückhaltung, wobei je nach dem mit der Haft verfolgten Zweck unterschieden wird. Dieser kann einerseits in der Verfahrenssicherung liegen, indem typische Wiederholungstäter in Haft zu belassen sind, wenn das Verfahren anders nicht abgeschlossen werden könnte. Dieser Haftgrund steht vorliegend unbestrittenermassen nicht zur Diskussion, da die Schlusseinvernahme erfolgt ist und die Verteidigung auf das Stellen von Beweisergänzungsanträgen verzichtet hat. Auf der anderen Seite kann die Haft unter dem Titel «Fortsetzungsgefahr» auch zur Sicherung der Gesellschaft vor chronischen Wiederholungstätern gerechtfertigt sein, so, wenn durch die befürchteten Straftaten die Sicherheit anderer gefährdet ist und diese Gefahr nur durch eine Inhaftierung abgewendet werden kann. Trotz der weiten Formulierung von § 26 Abs. 1 lit. c StPO kann dieser Haftgrund im Lichte der verfassungsmässigen Rechte des Angeschuldigten aber nur dann in Betracht kommen, wenn die Begehung von Verbrechen oder Vergehen von bestimmter Schwere zu befürchten ist (siehe dazu Niklaus Schmid, Zum Haftgrund der Wiederholungs- und Fortsetzungsgefahr in der neueren schweizerischen Strafprozessentwicklung, in: SJZ 1987, S. 228). Die Untersuchungshaft ist als Ausnahmemassnahme anzusehen, die nur angewendet werden darf, wenn sie unbedingt nötig ist. Entsprechend restriktiv sind deshalb die einzelnen Haftgründe und im Besonderen der Haftgrund der Fortsetzungsgefahr, da es hier um eine Präventionsmassnahme geht, auszulegen. Eine zu large Auslegung des Haftgrundes der Fortsetzungsgefahr ist mit den geltenden Rechtsstaatsprinzipien, namentlich dem verfassungsmässigen Recht der persönlichen Freiheit nicht vereinbar (KG 396/92 GP, Verfügung vom 17.11.1992; KG 348/95 GP, Verfügung vom 15.9.1995).

Bei der Prüfung der Frage, ob genügend Gründe zur Annahme bestehen, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechen oder Vergehen (von einer gewissen Schwere) begehen werde, ist auch nach Auffassung des Bundesgerichts ein strenger Massstab anzulegen, da dem Haftgrund der Fortsetzungsgefahr wesensgemäss eine gewisse Gefahr des Missbrauchs inne wohnt (BGE 105 Ia 31; siehe zum Ganzen auch Martin Schubarth, Die Rechte des Beschuldigten im Untersuchungsverfahren, insbesondere bei Untersuchungshaft, S. 102ff.).

(Verfügung vom 25.3.1999; KG 141/99 GP).

 

34

Strafprozessrecht

 Darf die Strafverfolgungsbehörde ein Rechtsgutachten einholen?

Aus den Erwägungen:

1. Der Beschwerdeführer macht zusammenfassend geltend, es sei unzulässig, zur Beurteilung von Rechtsfragen einen Gutachter beizuziehen; dies verstosse gegen den Grundsatz iura novit curia. Die Frage der Rechtmässigkeit einer FFE stelle eine reine Rechtsfrage dar, die mit normalem juristischem Sachverstand beurteilt werden könne. Es handle sich dabei nicht um schwierige Vorfragen aus einem rechtlichen Spezialgebiet. Weiter wird das Vorgehen der Bestellung des Gutachters gerügt und insbesondere die Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht. Infolge der Verletzung von iura novit curia und des rechtlichen Gehörs wird die vollständige Entfernung des Gutachtens aus den Untersuchungsakten verlangt. Nachfolgend ist deshalb erstens die Zulässigkeit der Begutachtung (unten E. 2 und dann E. 4), zweitens das Verfahren der Bestellung des Gutachters (E. 3) und drittens der weitere Verbleib des Gutachtens in den Akten (E. 4) zu beurteilen.

2. Die Staatsanwaltschaft hat den vorliegenden Gutachterauftrag als Ausnahme vom Grundsatz iura novit curia im Wesentlichen mit der Begründung als zulässig erachtet, dass in den letzten Jahren das Rechtsgebiet der FFE durch die Strafbehörden des Kantons Schwyz nie behandelt hätte werden müssen, weshalb es nicht abwegig sei, von einem Rechtsgebiet zu sprechen, welches (mindestens) für Strafrechtler als Spezialgebiet zu bezeichnen sei. Die Möglichkeit, ausnahmsweise vom Grundsatz iura novit curia abzuweichen, wird im Wesentlichen auf eine neuere Lehrmeinung abgestützt, wonach – zumindest de lege ferenda – die Aufrechterhaltung der Fiktion von der Allwissenheit der Justizorgane hinsichtlich des schweizerischen Rechts zu hinterfragen sei (vgl. Donatsch, Kommentar zur StPO-ZH, 1997, § 109, Rz. 24).

a) Das schwyzerische Strafprozessrecht enthält keine ausdrückliche Regelung betreffend das Einholen eines Rechtsgutachtens. Der Beizug eines Sachverständigen ist gemäss § 45 Abs. 1 StPO ausdrücklich nur zur Aufklärung des Sachverhaltes vorgesehen. Die Zulässigkeit von Rechtsgutachten im Allgemeinen ist in der Doktrin kontrovers (ausser Donatsch, a.a.O., vgl. dazu etwa Georg Müller, Der Jurist als Experte, SJZ 1979, S. 174, bejahend mit Hinweisen auf die ablehnende Auffassung von Max Imboden; bejahend ebenfalls Bänziger/Stolz/Kobler, Kommentar zur StPO-AR, 2. Aufl., Herisau 1992, Art. 86, Rz. 3; ablehnend weil iura novit curia: Schmid, Strafprozessrecht, 3. Aufl., Zürich 1997, § 41, Rz. 662 sowie Hauser/Schweri, Schweiz. Strafprozessrecht, 3. Aufl., Basel 1997, § 64, Rz. 3; ablehnend offenbar aus gesetzessystematischen Gründen Spirig, Zum psychiatrischen Gutachten, ZSR 1990 I, S. 418). Das Bundesgericht hält dafür, dass die Beweiswürdigung und die Beantwortung der sich stellenden Rechtsfragen in jedem Fall Sache des Richters bleiben muss (BGE 118 Ia 146 mit Hinweisen).

Der Bericht eines Sachverständigen zu Rechtsfragen ist jedenfalls kein Beweismittel, das Gegenstand der freien Beweiswürdigung durch den Richter sein könnte, wie dies die zuständige Untersuchungsrichterin in ihrer Vernehmlassung an die Staatsanwaltschaft vermeint.

b) Zunächst ist es zweckmässig, auf die kontroverse Grundsatzfrage teilweise einzugehen, nämlich insoweit, ob der Beizug von Rechtsgutachten durch die Untersuchungs- und Anklagebehörden zulässig ist, ein Aspekt, der, soweit ersichtlich, bisher in der Doktrin kaum diskutiert wurde.

aa) Der Grundsatz iura novit curia ist vor allem in dem von der Dispositions- und Verhandlungsmaxime beherrschten Zivilprozess von Bedeutung (vgl. Meier, Iura novit curia, Diss. Zürich 1975, S. 3). Die Parteien tragen im Zivilprozess die Verantwortung dafür, dem Richter den Sachverhalt darzulegen. Die Rechtsanwendung ist dann aber Sache des Richters. Die Abgrenzung von Rechts- und Tatfragen ist daher im Zivilprozess von ungleich grösserer Bedeutung als im Strafprozessrecht, wo die Rechtsanwendung und die Feststellung des Sachverhaltes grundsätzlich von Amtes wegen zu erfolgen haben. Im Strafprozess steht für die Begrenzung des Streitgegenstandes das Anklage- und das Immutibilitätsprinzip im Vordergrund. Es ist Sache der Untersuchungs- und Anklagebehörden, den Sachverhalt zu bestimmen und zum Prozessthema zu machen, an welchen der Richter bei der Rechtsanwendung dann grundsätzlich gebunden ist (§ 96 Abs. 1 StPO). Die Anklage bezeichnet denn auch die strafbare Handlung nach ihren tatsächlichen und gesetzlichen Merkmalen und die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung (§ 74 lit. b StPO). Konkret bedeutet dies, dass die Unrechtmässigkeit der Festnahme oder Gefangenhaltung in Art. 183 Ziff. 1 StGB bis und mit der Anklageerhebung von den Strafverfolgungsbehörden bezüglich ihrer Merkmale zu umschreiben, nicht aber zu beurteilen ist. Die Untersuchungs- und Anklagebehörden haben deshalb die Unrechtmässigkeit bzw. Rechtswidrigkeit eines Tatbestandes, vorliegend der Freiheitsberaubung, nicht nachzuweisen, sondern allein die tatsächlichen Umstände zu beschreiben, welche eine unrechtmässige Freiheitsberaubung nahelegen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe benötigen sie allgemein jedoch keine Rechtsgutachten. Daran ändert auch nichts, dass die Anklagebehörden bei der Frage nach einer allfälligen Einstellung des Untersuchungsverfahrens hypothetisch erwägen müssen, ob mit einer Verurteilung zu rechnen ist oder nicht. In Zweifelsfällen beweismässiger und vor allem rechtlicher Art soll Anklage erhoben werden. Der Grundsatz in dubio pro reo spielt bei Rechtsfragen nicht (Schmid, a.a.O., § 50, Rz. 797 u. 303). Zweifel in rechtlicher Hinsicht, vorliegend an der Rechtmässigkeit der Freiheitsberaubung bzw. der angeordneten FFE, müssen daher im Untersuchungs- und Anklagestadium gar nicht beseitigt werden. Im Gegenteil: wenn diese Frage rechtlich schwierig zu beantworten ist, darf sie allenfalls nicht mit einem Rechtsgutachten erledigt werden, sondern muss dem Richter vorgelegt werden.

bb) Das Einholen eines Gutachtens ist eine behördliche bzw. amtliche Prozesshandlung. Voraussetzung für die Vornahme von Prozesshandlungen ist, dass sie im Gesetz geregelt und abschliessend aufgezählt sein müssen (numerus clausus der Prozesshandlungen, vgl. Hauser/Schweri, a.a.O., § 44, Rz. 1; Schmid, a.a.O., § 35, Rz. 543, wo die Beweiserhebung als Ausnahme erwähnt wird). Wie bereits erwähnt, ist das Einholen von Gutachten in der schwyzerischen Strafprozessordnung auf die Abklärung des Sachverhaltes eingeschränkt (§ 45 Abs. 1 StPO). Das Einholen von Rechtsgutachten ist nicht vorgesehen und daher den Untersuchungs- und Anklagebehörden, die für die Ermittlung des Prozessthemas in tatsächlicher Hinsicht zuständig sind, die Beurteilung von Rechtsfragen aber grundsätzlich der richterlichen Beurteilung überlassen müssen, verwehrt.

c) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Untersuchungs- und Anklagebehörden somit keine Rechtsgutachten beiziehen dürfen.

3. Der Beschwerdeführer rügt, dass das Gutachten entgegen üblichen Abläufen in einem Rekordtempo durchgepeitscht wurde, um derart die erhobene Beschwerde zu torpedieren und einen fait accompli zu schaffen. Sein an das Verhöramt gerichtetes Gesuch vom 9. November 1998 um Erstreckung und Neuansetzung der Frist zum Vorbringen von Ausstandsgründen und zur Eingabe von Ergänzungsfragen sei unbeantwortet geblieben, womit offensichtlich elementarste Gehörsansprüche verletzt worden seien.

Auf die Rügen des Beschwerdeführers braucht nur kurz eingegangen zu werden, da das Einholen des Rechtsgutachtens wie gezeigt unzulässig war. Dagegen, dass eine Begutachtung möglichst rasch durchgeführt wird, ist nichts einzuwenden. Die Staatsanwaltschaft hat der Beschwerde vom 9. November 1998 keine aufschiebende Wirkung erteilt, weshalb das Verhöramt auf die Eingabe des Beschwerdeführers vom 9. November 1998 hin, den Gutachtensauftrag nicht sistieren musste. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer in dieser Eingabe nur vorsorglich für den Fall der Beschwerdeabweisung um die Abnahme bzw. Erstreckung und Neuansetzung der Frist zum Vorbringen von Ausstandsgründen und zur Eingabe von Ergänzungsfragen ersucht. Inwiefern deshalb der Umstand, dass das Verhöramt seine Eingabe nicht beantwortet hat, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen soll, ist nicht ersichtlich, zumal er die Abweisung der Beschwerde durch die Staatsanwaltschaft an das Kantonsgericht weitergezogen hat. Abgesehen davon, ist das Rechtsgutachten aus nachfolgenden Erwägungen aus dem Recht zu weisen.

4. Der Beschwerdeführer verlangt schliesslich, dass das Gutachten von Dr. S. aus den Akten entfernt werde, weil nur so sichergestellt werden könne, dass im Falle einer Anklageerhebung sich das Gericht unvoreingenommen mit dem Tatbestand des Art. 183 StGB auseinandersetzen könne. Neben der Verletzung von iura novit curia weist der Beschwerdeführer dabei noch auf Art. 6 EMRK hin, welcher ihm einen Anspruch auf Beurteilung durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht einräume. Damit stellt sich nochmals die Frage nach der Zulässigkeit des Rechtsgutachtens.

a) Die Gutachterfragen Nr. 1–3 wurden von der Staatsanwaltschaft zutreffend als reine Rechtsfragen angesehen. Versteht man die Frage Nr. 4 so, dass nicht einfach nach den faktischen Möglichkeiten, sondern nach den rechtlich zulässigen Möglichkeiten gefragt wird, so handelt es sich ebenfalls um eine Rechtsfrage. Fragen Nr. 5 und 6 sind dagegen Sachverhaltsfragen.

b) Ob es sich bei der allgemeinen Frage nach der Rechtmässigkeit der FFE um eine eigentliche Vorfrage handelt, die sich nicht direkt nach den Vorschriften des Strafgesetzbuches beurteilen lässt (zur rechtlichen Natur der Bestimmungen der FFE vgl. EGV-SZ 1997, Nr. 33), ist nicht entscheidend. Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit einer Handlung ist an sich eine eigentliche Materie des Strafrechts, auch wenn sich die Rechtmässigkeit aus anderen Gesetzen ergeben kann (Art. 32 StGB). Mögen auch die Bestimmungen über die FFE den schwyzerischen Strafbehörden – wie dies die Staatsanwaltschaft ausführt – praktisch nicht vertraut sein, so führt der Verteidiger zu Recht aus, dass das Gebiet der FFE in der Literatur ausreichend erschlossen ist, sodass die Strafjustizbehörden in der Lage sind, sich den nötigen Sachverstand selber zu verschaffen (vgl. u.a. zur Literatur neben zahlreichen Publikationen in Zeitschriften: Spirig, Kommentar über die FFE, Art. 397a–f ZGB, Zürich 1995; Suhr Brunner, FFE und Suchterkrankungen, insbes. Drogensucht, Zürich 1994; Caviezel, Die materiellen Voraussetzungen der FFE, Stans 1988). Es sind im konkreten Fall deshalb keine besonderen Schwierigkeiten ersichtlich, welchen nur mit Hilfe eines Experten begegnet werden könnte. Der Umstand, dass die FFE bei Drogensucht heikel bzw. umstritten ist, weil damit ein schwerwiegender Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen verbunden ist, heisst nicht, dass im Nachhinein die Klärung der Rechtmässigkeit des konkreten Vorgehens auch komplex ist und des Beizugs eines Rechtsexperten bedarf. Abgesehen davon, sind gerade die Strafverfolgungsbehörden mit der grundrechtlichen Problematik von Freiheitsentzügen vertraut (Untersuchungshaft) und, soweit der materielle Einweisungsgrund fraglich ist (Art. 397a Abs. 1 ZGB, vorliegend andere Suchterkrankungen), bedürfte es eines Gutachtens in tatsächlicher (medizinischer, psychiatrischer) und nicht rechtlicher Hinsicht. Heikel sind vielmehr die typisch strafrechtlichen Fragen, etwa die Fragen danach, was die Angeschuldigten gewusst und gewollt haben. Diese Fragen stossen bei der Freiheitsberaubung noch auf zusätzliche Schwierigkeiten, da in der Doktrin nicht gänzlich geklärt ist, ob die Unrechtmässigkeit Tatbestandselement ist und damit auch vom Vorsatz umfasst werden muss (so Egli, Freiheitsberaubung, Entführung und Geiselnahme, Grüsch 1986, S. 51f.) oder blosser Hinweis zur Beachtung der Rechtfertigungsgründe sein soll (so Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, BT I, 5. Aufl., Bern 1995, § 5, Rz. 30). Die Strafjustizbehörden sind deshalb gehalten, die Beurteilung der Rechtmässigkeit der fraglichen Handlungen selber vorzunehmen. Aus diesen Gründen lässt sich eine Abweichung vom Grundsatz iura novit curia im Sinne der von der Staatsanwaltschaft ins Feld geführten Auffassung von Donatsch im konkreten Fall überhaupt nicht rechtfertigen.

c) Dieses Ergebnis ist im Übrigen mit der von der Staatsanwaltschaft in der angefochtenen Verfügung zitierten Auffassung von Donatsch auch insofern nicht unvereinbar, weil sich dieser Autor offenbar auch nicht sicher ist, ob das Einholen eines Rechtsgutachtens ohne gesetzliche Grundlage erlaubt sei und deshalb den Grundsatz iura novit curia bzw. die damit verbundene Fiktion von der Allwissenheit der Justizorgane hinsichtlich des schweizerischen Rechts nur «zumindest de lege ferenda» nicht als eine Regel betrachtet, von der es keine Ausnahmen geben könne. Eine solche gesetzliche Grundlage gibt es aber, wie gesagt, nicht.

d) Ergibt sich aufgrund der bisherigen Erwägungen, dass es den Untersuchungs- und Anklagebehörden grundsätzlich nicht zusteht, ein Rechtsgutachten einzuholen (vgl. E. 2), und darüber hinaus im konkreten Fall überhaupt kein Rechtsgutachten beigezogen werden darf, braucht auf die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage der EMRK-Konformität nicht weiter eingegangen zu werden. Auf Folgendes sei jedoch noch hingewiesen. Georg Müller scheint neben der erhofften Steigerung der Qualität der Rechtsprechung eher einen ‹Waffenausgleich› zugunsten der Justizorgane im Auge zu haben, wenn er das strikte Verbot für die Justiz, Rechtsexperten beizuziehen, umso weniger begründet hält, als die Parteien private Rechtsgutachten unbeschränkt in den Prozess einbringen könnten und diese, der juristischen Literatur gleichgestellt, zur Meinungsbildung des Gerichts beitragen würden, da dieses nicht darum herumkomme, sich damit auseinanderzusetzen (Georg Müller, a.a.O., S. 174 mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung; vgl. auch Donatsch, a.a.O., § 109, Rz. 13). Es stellt sich deshalb die Frage, ob es der Anklagebehörde nicht ebenso wie einer Partei zuzugestehen ist, die Anklage mit Hilfe eines Rechtsgutachtens vor Gericht zu vertreten. Dies liesse sich insofern begründen, dass zwar die Anklageerhebung sowie die Vertretung der Anklage vor Gericht amtliche Prozesshandlungen sind, der Inhalt des Plädoyers des Anklägers aber, mit welchem er seine Position vor Gericht auch in rechtlicher Hinsicht argumentativ auseinandersetzt, durch den numerus clausus der Prozesshandlungen nicht betroffen sein kann. Es soll deshalb hier nicht kategorisch ausgeschlossen werden, dass der öffentliche Ankläger in schwierigen und/oder speziellen Rechtsfragen sowie unter gewissen Umständen (so, wenn er sich etwa einem mehrfach und fachprominent vertretenen Angeklagten gegenübergestellt weiss) versucht, seinen Standpunkt mit einem Rechtsgutachten zu untermauern und deshalb dem Gericht den Antrag stellt, ein solches Gutachten einzuholen. In solchen Fällen – wozu der vorliegende nicht zu zählen ist – hat das Gericht darüber zu entscheiden, ob das beantragte Rechtsgutachten zugelassen werden darf oder nicht. Die Kosten eines derartigen Gutachtens wären jedoch vom Staat zu tragen, da die mangelnde Rechtskenntnis der Justizorgane bzw. die Komplexität der staatlichen Gesetzgebung nicht dem Angeschuldigten zur Last gelegt werden dürfte (Donatsch, a.a.O., § 109, Rz. 24 in fine).

5. Das Gutachten von Dr. S ist aus all diesen Gründen aus den Akten zu entfernen. Da für die Sachverhaltsfragen Nr. 5 und 6 kaum Dr. S. als Gutachter bestellt worden wäre und sich nur mit der Entfernung des ganzen Gutachtens sicherstellen lässt, dass die Antworten auf die Rechtsfragen für das weitere Verfahren ausgeklammert bleiben, ist das ganze Gutachten aus dem Recht zu weisen.

In Gutheissung der Beschwerde ist in Aufhebung der angefochtenen Verfügung die Unzulässigkeit des Gutachterauftrages festzustellen und das Verhöramt anzuweisen, das Gutachten aus den Akten zu entfernen und Dr. S. zu retournieren. Die Kosten des Gutachtens gehen zulasten des Verhöramtes.

(Beschluss vom 29.1.1999; KG 540/98 RK 2).

  

35

Strafprozessrecht

 Keine Entschädigung, wenn das Ermittlungsverfahren durch Nichteröffnungsverfügung beendet wird; Abgrenzung der beiden Verfahren.

Aus den Erwägungen:

1. Die Vorinstanzen haben einen Entschädigungsanspruch des Beschwerdeführers wegen fehlender gesetzlicher Grundlage verneint. Sie argumentierten, dass die schwyzerische Strafprozessordnung nur dann einen Rechtsanspruch auf Entschädigung statuiere, wenn ein Beschuldigter freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt worden sei. Im vorliegenden Fall sei keine Strafuntersuchung gegen den Beschwerdeführer eröffnet worden, womit ein Entschädigungsanspruch gestützt auf § 54 in Verb. mit § 52 StPO nicht bestehe. Vorliegend seien zwar einige Erhebungen (in einer gewissen Zeitspanne) notwendig gewesen, dies entspreche aber entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht materiellen Untersuchungshandlungen, und solche Erhebungen würden auch vom Gesetzgeber systematisch von den Untersuchungshandlungen getrennt (§ 59 StPO). Im Stadium solcher Erhebungen gehe es lediglich darum abzuklären, ob überhaupt eine strafbare Handlung vorliege oder nicht. Der Angeschuldigte müsse sich dementsprechend auch noch nicht gegen einen bestimmten Vorwurf verteidigen. Eine sinngemässe Anwendung von §§ 52ff. StPO für den Fall der Nicheröffnung sei im Gesetz nicht geregelt und deshalb auch nicht haltbar.

Diesen Erörterungen stellt der Beschwerdeführer in seiner Eingabe ans Kantonsgericht zusammengefasst was folgt entgegen:

Richtig sei zwar, dass im vorliegenden Fall der Untersuchungsrichter formell lediglich eine Ermittlung im Sinne von § 59 Abs. 2 StPO geführt habe, materiell habe er aber offenkundig Untersuchungshandlungen im Sinne von § 61 StPO vorgenommen. Hätte er nur ersteres getan, wäre dem Beschwerdeführer der geltend gemachte Aufwand gar nicht entstanden. ... Bei dieser Abklärung könne es nicht darum gegangen sein, lediglich abzuklären, ob überhaupt eine strafbare Handlung vorliege oder nicht. Hier sei es darum gegangen, den Sachverhalt festzustellen und die Beweismittel zu sammeln, die zur Überführung oder Entlastung des Beschwerdeführers erforderlich seien (§ 61 Abs. 1 StPO). Wäre es dem Untersuchungsricher nur darum gegangen, die Feststellungen zu treffen, die ihn schlussendlich zur Nichteröffnungsentscheidung bewegt hätten – nämlich Feststellungen, die er bei erster Durchsicht der Strafanzeige hätte treffen können – so hätte er auch nicht via Kantonspolizei, Dienst Wirtschaftsdelikte, den Beschwerdeführer mit einer ganzen Reihe von Fragen belasten müssen. Hier sei es doch ganz klar darum gegangen, den Sachverhalt im Sinne von § 61 StPO festzustellen, mithin materielle Untersuchungshandlungen vorzunehmen. In der Beschwerdeschrift wird sodann auch auf das zeitliche Moment hingewiesen: der Beschwerdeführer sei von April 1997 bis Dezember 1998 – folglich über mehr als eineinhalb Jahre – dem Vorwurf des Wuchers ausgesetzt gewesen. Die Behauptung der Staatsanwaltschaft, der Beschwerdeführer hätte sich gar nicht gegen einen konkreten Vorwurf zur Wehr setzen müssen, wirke für den Beschwerdeführer nachgerade sarkastisch. Entscheidend sei die Frage, ob ein bestimmter Angeschuldigter sich gegen einen bestimmten Vorwurf einer strafbaren Handlung zu verteidigen habe oder nicht. Wenn dem so sei, sei materiell eine Untersuchung im Gang, auch wenn dies formal nach Prozessordnung eine andere Bezeichnung gefunden habe. Im Ergebnis bedeute vorliegend die Verweigerung einer Entschädigung eine Bestrafung ohne Verurteilung.

2. a) Die schwyzerische Strafprozessordnung kennt die sog. eingliedrige Untersuchung ohne scharfe Trennung zwischen Untersuch einerseits und Ermittlung, welche ebenso polizeilich wie auch untersuchungsrichterlich erfolgen kann, anderseits. Eine exakte Trennung zwischen Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren kann sich als schwierig erweisen. Den Untersuchungsorganen ist dabei ein gewisser Ermessensspielraum einzuräumen. Immerhin hat sich für die Abgrenzung des Ermittlungsverfahrens vom Untersuchungsverfahren kantonal (EGV 1983, S. 93f.) und landesweit (Cloetta, Nichtanhandnahme und Einstellung der Strafuntersuchung in der Schweiz, 1984, S. 48) eine wegleitende Praxis herausgebildet, wonach im Ermittlungsverfahren bei ausgeschlossenen oder eingeschränkten Parteimitwirkungsmöglichkeiten in einem einfachen Verfahren meist polizeilich, gegebenenfalls aber auch untersuchungsrichterlich, abgeklärt werden soll, ob Anhaltspunkte für ein Strafverfahren gegeben sind; weitergehende Erhebungen und Beweisabnahmen, welche den objektiven und subjektiven Tatbestand, die Person des Täters, die Rechtswidrigkeit, die Schuldfrage sowie die formellen Voraussetzungen des Strafverfahrens betreffen, gehen über das Ermittlungsstadium hinaus und sind dem Untersuchungsverfahren zuzurechnen, in welchem die Parteirechte auf Akteneinsicht, Beweisantragsstellung und Teilnahme an Untersuchungshandlungen grundsätzlich gewährleistet sind (Verfügung des a.o. Staatsanwaltes vom 5.2.1998; zum Ganzen auch: Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. A., N. 33ff. zu § 75).

b) Für die Abklärung, ob Anhaltspunkte für ein Strafverfahren gegeben sind, sind in der Regel gewisse Erhebungen nötig. Das Gesetz spricht denn auch davon, dass bei Zweifel über das Vorliegen einer strafbaren Handlung «die nötigen Erhebungen» vorzunehmen sind und dann der Untersuchungsrichter über die Eröffnung der Untersuchung entscheidet (§ 59 Abs. 2 StPO). Im Unterschied zur Untersuchung beschränkt sich dieses erste Stadium eher auf eine vorläufige, sammelnde Tätigkeit, bei der es insbesondere darum geht, den äusseren Hergang eines Vorganges zu ermitteln. Das Untersuchungsverfahren anderseits dient vor allem dazu, durch Prozesshandlungen verschiedenster Art den Sachverhalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht so abzuklären, dass gestützt darauf Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt werden kann (Cloetta, a.a.O., S. 16; Hauser/Schweri, N. 33 zu § 75; N. 2 zu § 76). Die Abgrenzung ist im Einzelfall – wie angetönt – nicht leicht, und den Strafverfolgungsbehörden ist deshalb ein gewisser Spielraum einzuräumen.

c) Die Eröffnung der Strafuntersuchung wird in der Praxis der Schwyzer Strafuntersuchungsbehörden nicht formell verfügt. Diese Praxis birgt die Gefahr in sich, dass nach erfolgten Erhebungen ein Verfahren formell durch Nichteröffnung abgeschlossen wird, obwohl materielle Untersuchungshandlungen vorgenommen worden waren. Für die Frage der Entschädigung darf deshalb nicht die formelle Bezeichnung des Verfahrensabschlusses massgeblich sein, wie der Beschwerdeführer an sich zu Recht einwendet. Zu prüfen ist in einem konkreten Fall vielmehr, ob das Verfahren in materiellem Sinne noch im Stadium der Ermittlungen stand oder bereits so weit fortgeschritten war, dass es nur mittels Einstellungsverfügung hätte erledigt werden dürfen. Ist letzteres der Fall, so besteht nach § 54 Abs. 3 in Verb. mit § 52 StPO ein Anspruch des zu Unrecht Verfolgten auf Entschädigung für ungerechtfertigte Nachteile. Im anderen Fall fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage für die Zusprechung einer Entschädigung; einem Anspruch übrigens, der sich aus dem kantonalen öffentlichen Recht herleitet (BGE 108 Ia 13; Hauser/Schweri, a.a.O., N. 1ff. zu § 109; und umfassend siehe Donatsch/Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kts. Zürich, N. 1ff. zu § 43). Ein Beanzeigter hat somit keinen Anspruch auf eine Entschädigung für mögliche Nachteile, wenn das Verfahren im Ermittlungsstadium blieb und tatsächlich (materiell) keine eigentlichen strafprozessualen Massnahmen erfolgten. Hierfür mangelt es an einer gesetzlichen Grundlage im kantonalen Recht, und es steht auch dem Richter nicht zu, die Regelung von §§ 52ff. StPO analog auf den Fall der Nichteröffnung der Strafuntersuchung auszudehnen. Vorbehalten bleibt ein allfälliger Anspruch eines Inhaftierten für ungesetzliche Haft aus dem verfassungsmässigen Recht der persönlichen Freiheit bzw. Art. 5 Ziff. 5 EMRK (z.B. Polizeihaft nach § 29a StPO; siehe auch Praxis 1998, Nr. 78).

d) Diese einschränkende Entschädigungsregelung ergibt sich aus dem Grundsatz, dass jede Person bis zu einem gewissen Grad das Risiko einer ungerechtfertigt gegen sie geführten Strafverfolgung als sog. «Sonderopfer» selbst zu tragen hat (Donatsch/Schmid, a.a.O., N. 8 zu § 43). Das Bundesgericht umschrieb diesen Grundsatz in einem das Verwaltungsstrafverfahren des Bundes betreffenden Entschädigungsentscheid wie folgt (BGE 107 IV 157):

Eine Entschädigungspflicht im Sinne von Art. 99 Abs. 1 VStrR besteht nicht schon für jeden geringfügigen Nachteil. Auch in einem Rechtsstaat hat der Bürger grundsätzlich das durch die Notwendigkeit der Verbrechensbekämpfung bedingte Risiko einer gegen ihn geführten materiell ungerechtfertigten Strafverfolgung bis zu einem gewissen Grad auf sich zu nehmen. Die Entschädigungspflicht im Sinne der genannten Bestimmung setzt daher wie diejenige nach Art. 122 Abs. 1 BStP eine gewisse objektive Schwere der Untersuchungshandlung und einen dadurch bedingten erheblichen Nachteil voraus (BGE 84 IV 46/47). Dieser ist vom Ansprecher zu substanzieren und zu beweisen (Entscheid der AK vom 14.4.1981 i. S. Sch. c. Bundesanwaltschaft).

Diese Maxime kommt auch in der Praxis zu kantonalen Entschädigungsregelungen zum Ausdruck. So sind beispielsweise nach der Zürcher Regelung nur die wesentlichen Kosten und Umtriebe vom Staat zu entschädigen (§ 43 StPO-ZH). Darüber ist im Einzelfall nach billigem Ermessen zu entscheiden, wobei die objektive Schwere des Eingriffs und die hervorgerufenen Nachteile zu beachten sind. So wurden etwa als unerhebliche Kosten das einmalige Verhör und das Erscheinen aufgrund einer fakultativen Vorladung bezeichnet (Donatsch/Schmid, a.a.O., N. 8 zu § 43 mit Hinweisen; Hauser/Schweri, a.a.O., N. 5 und 8 zu § 109; Schmid, Strafprozessrecht, 3. A., N. 1220, erwähnt, dass der Bürger beispielsweise einzelne Einvernahmen in Kauf zu nehmen hat).

e) Daraus ergibt sich, dass entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht der blosse Umstand entschädigungsbegründend sein kann, dass eine bestimmte Person einem konkreten Vorwurf strafbaren Verhaltens ausgesetzt ist. Dies auch dann nicht, wenn diese Ermittlungstätigkeit der staatlichen Untersuchungsorgane für den Betroffenen gewisse Nachteile – seien es solche immaterieller oder materieller Natur – mit sich bringen. Die Untersuchungsbehörde oder die Polizei hat die an sie gerichteten Strafanzeigen zu prüfen, und im Rahmen von solchen ersten Ermittlungen sind vom Bürger gewisse Umtriebe zu akzeptieren, ohne dass er hierfür den Staat finanziell zur Rechenschaft ziehen kann.

f) Zu beachten ist schliesslich, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens der Angezeigte noch nicht strafprozessualen Zwangsmassnahmen ausgesetzt ist (wie Untersuchungshaft, Beschlagnahme, Durchsuchung oder Überwachung). Auch dieser Umstand spricht dafür, für das eigentliche Ermittlungsverfahren eine Entschädigungspflicht auszuschliessen.

3. Die Rekurskammer ist mit der Staatsanwaltschaft der Auffassung, dass die Erhebungen im vorliegenden Fall nicht derart weit gediehen sind, dass von materiellen Untersuchungshandlungen die Rede sein kann. Zu beachten ist insbesondere, dass keine eigentlichen strafprozessualen Untersuchungshandlungen im Sinne von §§ 23ff. StPO, welche den Beschwerdeführer betroffen hätten, veranlasst wurden. Der Fall blieb mit der Anfrage der Polizei vom 7. April 1998 auf der Ebene der Ermittlungstätigkeit. Den Akten lässt sich entnehmen, dass sich der Beschwerdeführer wiederholt aus eigenem Antrieb bei der Untersuchungsbehörde meldete (gemäss Leistungsblatt Dr. M: Schreiben vom 27.10.1997, 23.9.1998, 16.11.1998 und 27.11.1998; Telefonate an Verhöramt Schwyz vom 18.11.1998, 24.11.1998 und 10.12.1998). Dass sich der Beschwerdeführer nach Kenntnis der Strafanzeige sozusagen präventiv im Verfahren äusserte, ist unter den konkreten Umständen zwar verständlich. Dieses Vorgehen kann aber nicht dazu führen, dass der Beanzeigte für die entsprechenden Bemühungen vom Staat entschädigt werden muss.

(Beschluss vom 4.10.1999; KG 293/99 RK 2).

 

36

Strafprozessrecht

 Die Eröffnung einer Strafuntersuchung bedarf keiner formellen Verfügung und ist daher nicht beschwerdefähig.

Aus den Erwägungen:

Im Gegensatz zur Untersuchungsrichterin kommt der Staatsanwalt zum Schluss, dass hinsichtlich der Ausstellung des Arbeitszeugnisses eine Strafuntersuchung wegen Urkundenfälschung zu eröffnen sei. Zu prüfen ist vorab die Frage, ob die Eröffnung einer Untersuchung einen formellen Akt darstellt, gegen den die angeschuldigte Person bei den Aufsichtsbehörden ein ordentliches Beschwerdeverfahren führen kann (§ 140 StPO).

Im Gegensatz zur Nichteröffnung einer Strafuntersuchung bedarf die Eröffnung keiner formellen Verfügung. § 59 Abs. 1 und 2 StPO halten fest, dass der Untersuchungsrichter – evtl. nach nötigen Erhebungen – die Untersuchung eröffnet, wenn die Voraussetzungen der Strafverfolgung gegeben sind. Die Eröffnung des Strafverfahrens ist – im Unterschied zur Nichteröffnung – weder zu begründen noch den Parteien mitzuteilen. In der Regel wird die Untersuchung konkludent eröffnet. Der Untersuchungsrichter nimmt die Untersuchung von sich aus, auf Antrag oder Anzeige hin faktisch an die Hand; einer formellen Verfügung bedarf es nicht. Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. A., § 76, N. 6, halten fest, dass auch dort, wo der Untersuchungsbeamte die Eröffnung förmlich festhält, diesem Akt keine konstitutive Wirkung zukomme, da die Eröffnung auch konkludent erfolgen könne (siehe auch N. Schmid, Strafprozessrecht, 3. A., Rz. 780 und 785). Gleich muss es sich verhalten, wenn der Staatsanwalt aufsichtsrechtlich die Eröffnung der Untersuchung gegen den Willen des Untersuchungsrichters anordnet. Die Eröffnung wird auch nicht beschwerdefähig, wenn sie im Rahmen eines von einer geschädigten Partei gegen die verfügte Nichteröffnung veranlassten Beschwerdeverfahrens durch die Staatsanwaltschaft angeordnet wird. Der Staatsanwalt handelt dann im Rahmen seiner Aufsichtsgewalt – wie er etwa auch im Rahmen einer Amtsvisitation gegen die Auffassung des Untersuchungsrichters die Eröffnung einer Strafuntersuchung veranlassen könnte. In der Sache handelt es sich somit um ein aufsichtsrechtliches Eingreifen oder, wie es Schmid unter Rz. 995, Anm. 83 bezeichnet, um einen behördeninternen Vorgang, wogegen keine Rekursmöglichkeit besteht. Dass die Anordnung im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens und damit gegen aussen wirksam wird, macht sie nicht anfechtbar. Es bleibt in der Sache ein Akt der Aufsichtsgewalt der Staatsanwaltschaft, die an Stelle des Untersuchungsrichters handelt, der die Untersuchung formlos und ohne Mitteilung an die Parteien hätte eröffnen müssen.

Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass das Kantonsgericht im Rahmen seiner Aufsichtsgewalt befugt wäre, eine staatsanwaltliche Anordnung auf Eröffnung der Untersuchung von Amtes wegen aufzuheben, wenn die Strafbarkeit klar nicht gegeben wäre oder es an einer Prozessvoraussetzung fehlen würde. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Insbesondere ist der in der Beschwerde erhobene, aber nicht weiter begründete Einwand der Verjährung nicht stichhaltig, nachdem für Urkundenfälschung als eine mit Zuchthaus bedrohte Tat die zehnjährige Verfolgungsverjährung gilt.

Die Anordnung des Staatsanwaltes auf Eröffnung der Strafuntersuchung ist demgemäss nicht beschwerdefähig. Insoweit ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.

(Beschluss vom 1.7.1999; KG 264/99 RK 2).

  

37

Schuldbetreibungs- und Konkursrecht

 Nur die Behörde, welche verfügt hat, ist Beschwerdegegner im Verfahren nach Art. 17 SchKG.

Aus den Erwägungen:

Die Vorinstanz hat neben dem Betreibungsamt S. den Schuldner als Beschwerdegegner aufgeführt. Die Beschwerde richtete sich nur gegen das Betreibungsamt als verfügende Instanz. Nur gegen diese im Vollstreckungsverfahren verfügende Instanz kann sich denn auch die Beschwerde nach Art. 17 SchKG richten. Beschwerdegegner ist immer das Vollstreckungsorgan, das die angefochtene Verfügung getroffen hat oder von dem sie erwartet wird (Amonn/Gasser, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 6. A., § 6, Rz. 29; Cometta, SchKG-Kommentar, N. 46f. zu Art. 17). Die Gegenpartei des Betreibungsverfahrens hat allenfalls das Recht auf Anhörung, ist aber nicht, wie in einem zivilrechtlichen Rechtsmittelverfahren, auch Gegenpartei des Beschwerdeverfahrens.

Freilich ist sie in der Regel befugt, einen gegen ihre Interessen zuwiderlaufenden Entscheid an die nächst höhere Aufsichtsinstanz weiterzuziehen. Daraus ergibt sich dann aber ein neues Verfahren mit neuem Streitgegenstand (Fritzsche/Walder, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Bd. I, § 8, Rz. 17). Die untere Aufsichtsbehörde hat demgemäss den Schuldner zu Unrecht als weiteren Beschwerdegegner aufgeführt. An der Sache vorbei geht insbesondere die Feststellung in der Entscheidbegründung, wonach «die betreibungsrechtliche Beschwerde gegen den Beschwerdegegner Ziff. 2 wegen fehlender Passivlegitimation abzuweisen» sei (Erw. 2). Die Sachlegitimation betrifft die Frage der materiellrechtlichen Voraussetzung eines Klageanspruchs in einem Zivilverfahren. Diese Fragestellung hat im SchKG-Beschwerdeverfahren nichts zu suchen. Im Beschwerdeverfahren geht es allein um die Prüfung der Rechtmässigkeit und Angemessenheit der Verfahrenstätigkeit der SchKG-Vollstreckungsorgane. Daraus ergibt sich, dass Dispositiv-Ziffer 1 von Amtes wegen und ersatzlos aufzuheben ist.

(Beschluss vom 26.3.1999; KG 44/99 RK 2).

  

38

Schuldbetreibungs- und Konkursrecht

 Bankenkonkurs.

Aus den Erwägungen:

Das Konkursverfahren über Banken findet seine Grundlage in Art. 36 des Bundesgesetzes über Banken und Sparkassen (SR 952.0, BankG). In dieser Bestimmung und in den materiellen Normen Art. 37a und b BankG finden sich Abweichungen des Bankenkonkursrechts vom gemeinen Zwangsliquidationsrecht. Von der in Art. 36 Abs. 5 BankG eingeräumten Befugnis, für das Konkursverfahren weitere Vorschriften zu erlassen, hat das Bundesgericht (im Gegensatz zum Nachlassverfahren für Banken) bis anhin keinen Gebrauch gemacht. In Art. 53 der Vollziehungsverordnung des Bundesrates zum Bundesgesetz über die Banken und Sparkassen (SR 952.821) wird das Beschwerdeverfahren u.a. gegen Entscheide des Konkursgerichts geregelt.

Nach Art. 36 Abs. 4 haben die Kantonsregierungen als Konkursgericht eine einzige kantonale Instanz zu bestimmen. Hierzu bestimmt wurde gemäss Regierungsratsbeschluss betreffend den Vollzug des Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen das Kantonsgericht (nGS-310; § 1 lit. b). Streitigkeiten, welche gemäss Bundesrecht von einer einzigen kantonalen Instanz zu beurteilen sind, werden vom Präsidenten einer Kammer zugewiesen (§ 28 Abs. 4 GO). Die Zuweisung erfolgt an die 2. Rekurskammer, die im Übrigen auch Rekurse und Nichtigkeitsbeschwerden in SchKG-Sachen behandelt und als Nachlassgericht und obere SchKG-Aufsichtsbehörde amtet.

Ohne vorgängige Betreibung eröffnet der Konkursrichter auf Überschuldungsanzeige hin über eine Aktiengesellschaft den Konkurs (Art. 192 SchKG, Art. 725a Abs. 1 OR). Formelle Voraussetzung einer Konkurseröffnung gemäss Art. 725a OR ist eine rechtsgültig unterzeichnete Anzeige der Überschuldung an den Richter. Die Anzeigepflicht der Liquidatorin regelt Art. 743 Abs. 2 OR. Sie hat, sobald sie eine Überschuldung feststellt, den Richter zu benachrichtigen; und dieser hat die Eröffnung des Konkurses auszusprechen. Die Anzeige liegt mit Gesuch der Liquidatorin vor.

Art. 743 Abs. 2 OR verlangt im Unterschied zu Art. 725 Abs. 2 OR keine Prüfung der wegen Überschuldungsverdachts erstellten Zwischenabrechnung durch die aktienrechtliche Revisionsstelle. Ausgangspunkt der vorliegenden Überschuldungsprüfung durch das Konkursgericht bildet demnach die von der Liquidatorin erstellte Zwischenbilanz, die im Gesuch dargelegten Wertberichtigungen sowie der vorgelegte Status.

Ein Konkursaufschub durch den Richter im Liquidationsfall analog Art. 725a Abs. 1 OR ist ausgeschlossen, da nicht mehr über die Fortführung einer Unternehmung zu befinden ist, sondern lediglich noch darüber, welches Liquidationsverfahren – die ordentliche Liquidation nach Obligationenrecht oder das Konkursverfahren – durchzuführen ist. Der Konkursaufschub darf nicht gewährt werden, um eine Liquidation ohne Konkursverfahren zu ermöglichen (BGE 101 III 106; ZR 94/1995 Nr. 60; Honsell/Vogt/Watter, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, N. 4 zu Art. 725a OR und N. 11, 14 zu Art. 743 OR; Böckli, Schweizer Aktienrecht, 2. A., N. 1679a). Dem in der Verhandlung gestellten Eventualantrag – die Eröffnung des Konkurses sei aufzuschieben – ist damit zum vornherein der Boden entzogen. Die Bank X. kann infolge Auflösung keine Banktätigkeit mehr ausüben und befindet sich in Liquidation. Die Sanierungsfrage stellt sich damit nicht.

Materielle Voraussetzung für eine Konkurseröffnung ist das Vorliegen einer tatsächlichen Überschuldung der Gesellschaft. Eine Überschuldung liegt dann vor, wenn gemäss Zwischenbilanz die Aktiven das Fremdkapital nicht mehr decken. Für die richterliche Beurteilung der Vermögenslage, welche im summarischen Verfahren zu erfolgen hat, kann auch bilanzmässig nicht quantifizierbaren Elementen (z.B. Zustand der Buchhaltung, Vorliegen einer Strafanzeige, Revisionsunterlagen) massgebliche Bedeutung zukommen (Honsell, a.a.O., N. 3 zu Art. 725a OR).

Bei der Überschuldungsprüfung der Finanzlage einer Aktiengesellschaft hat sich der Richter von den massgeblichen Buchführungs- und Bewertungsvorschriften leiten zu lassen. Er kann nicht auf Angaben abstellen, welche die finanzielle Lage der Gesellschaft in einem zu rosigen Licht erscheinen lassen. Abzustellen ist nur auf Aktiven und Passiven, die ordnungsgemäss bewertet sind (Böckli, a.a.O., N. 1682 und 1684b). Hierzu gehört das bei der Rechnungslegung zu beachtende Vorsichtsprinzip (Art. 662a Abs. 2  Ziff. 3 OR) und die in Art. 669 enthaltenen Pflichten zu Wertkorrekturen. Danach müssen Abschreibungen, Wertberichtigungen und Rückstellungen vorgenommen werden, soweit sie nach allgemein anerkannten kaufmännischen Grundsätzen notwendig sind. Rückstellungen sind insbesondere zu bilden, um ungewisse Verpflichtungen und drohende Verluste aus schwebenden Geschäften zu decken. Aktiven sind im Wert zu berichtigen, respektive es ist ein entsprechendes Delkredere einzusetzen, wenn der Bestand oder die Vollstreckung von Forderungen ungewiss ist. Es handelt sich um diejenigen Korrekturen, die erforderlich sind, um eine korrekte und dem Vorsichtsprinzip Rechnung tragende Darstellung der finanziellen Lage der Gesellschaft sicherzustellen (KG 214/98 RK 2, Beschluss vom 17.7.1998 i.S. L.A.V. AG, E. 3 f; Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, Schweizerisches Aktienrecht, 1996, § 50, N. 230ff., 292; zum Ganzen auch: Böckli, a.a.O., N. 1054ff., Honsell, a.a.O., N. 1ff. zu Art. 669 OR; Käfig, Berner Kommentar, N. 424ff. zu Art. 959 OR).

(Beschluss vom 18.3.1999; KG 23/99 RK 2).

 

39

Schuldbetreibungs- und Konkursrecht

 Art. 265a Abs. 1 SchKG: Wird der Entscheid nur aufgrund von kantonalem Verfahrensrecht gefällt, so sind die kantonalen Rechtsmittel zulässig.

Aus den Erwägungen:

1. B. wurde mit Zahlungsbefehl vom ... betrieben. Er erhob am 18. August 1999 Rechtsvorschlag mit der Begründung: Kein neues Vermögen. Das Betreibungsamt legte diesen Rechtsvorschlag im Sinne von Art. 265a SchKG dem Einzelrichter zum Entscheid vor. Der Einzelrichter lud am 20. August 1999 die Parteien zur Hauptverhandlung auf 30. August 1999, 16.00 Uhr vor. Dem Schuldner drohte der Einzelrichter für den Fall des unentschuldigten Fernbleibens an, dass auf seine Klage nicht eingetreten werde (§ 168 ZPO) und der Rechtsvorschlag nicht bewilligt werde. Mit Verfügung vom 31. August 1999 trat der Einzelrichter infolge Säumnis des Schuldners auf das Begehren um Bewilligung des Rechtsvorschlages nicht ein. In den Erwägungen führt er aus, dass auf den in der Einrede implizierten Antrag auf Bewilligung des Rechtsvorschlages androhungsgemäss nicht eingetreten werde, da der säumige Schuldner nicht besser gestellt werden soll als derjenige, der die Einrede des mangelnden Vermögens gar nicht erst erhebt.

2. Mit Eingabe vom 9. September 1999 ersucht B. das Kantonsgericht um Aufhebung der Verfügung des Einzelrichters vom 31. August 1999.

3. Gemäss Art. 265a Abs. 1 SchKG legt das Betreibungsamt den Rechtsvorschlag des Schuldners mit der Begründung, er sei nicht zu neuem Vermögen gekommen, dem Richter des Betreibungsortes vor (Einzelrichter gemäss § 12 Abs. 1 Ziff. 12 EVzSchKG). Dieser hört die Parteien an und entscheidet endgültig. Der Richter bewilligt den Rechtsvorschlag, wenn der Schuldner seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse darlegt und glaubhaft macht, dass er nicht zu neuem Vermögen gekommen ist (Abs. 2). Bewilligt der Richter den Rechtsvorschlag nicht, so stellt er den Umfang des neuen Vermögens fest (Abs. 3 Satz 1). Der Schuldner und der Gläubiger können innert 20 Tagen nach der Eröffnung des Entscheides über den Rechtsvorschlag auf dem ordentlichen Prozessweg beim Richter des Betreibungsortes Klage auf Bestreitung oder Feststellung des neuen Vermögens einreichen. Der Prozess wird im beschleunigten Verfahren durchgeführt (Abs. 4).

a) In der Botschaft über die Änderung des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs vom 8. Mai 1991 wird zu dieser neuen Vorschrift ausgeführt, dass der Entscheid des Richters gemäss Abs. 1 der Bestimmung endgültig sei; kantonale Rechtsmittel – ordentliche oder ausserordentliche – seien mithin ausgeschlossen. Der Rechtsschutz der Parteien erleide dadurch keine Einbusse; denn wer mit dem Bewilligungsentscheid nicht einverstanden sei, könne gemäss Abs. 4 Klage erheben. Der Streitgegenstand sei derselbe (BBl 1991 III, S. 159). Das Kantonsgericht hat sich in Übereinstimmung mit der überwiegenden Lehrmeinung (so Amonn/Gasser, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, Bern 1997, § 48, Rz. 43; Gasser, Nachlassverfahren, Insolvenzerklärung und Feststellung des neuen Vermögens, in: ZBJV 1996, S. 19; Gut/Rajower/Sonnenmoser, Rechtsvorschlag mangels neuen Vermögens, in: AJP 5/98 535; Huber, in SchKG-Kommentar, Bd. III, Basel 1998, Art. 265a, Rz. 31; kritisch: Brönnimann, Neuerungen bei ausgewählten Klagen des SchKG, in : ZSR 1996, Bd. I, S. 230) dieser Auffassung angeschlossen (KG 304/97 RK 2 v. 15.10.1997, 178/99 RK 2 v. 14.6.1999). Im eben erstzitierten Fall aus dem Jahre 1997 hat das Kantonsgericht allerdings einen Nichteintretensentscheid des Vorderrichters als nichtig aufgehoben, weil er die Schuldnerin in jenem Verfahren nicht vorschriftsgemäss angehört hat. Bezüglich der Frage der Endgültigkeit eines Entscheides nach Art. 265a Abs. 1 SchKG wurde jedoch nicht zwischen einem Entscheid in der Sache – also der Bewilligung oder Nichtbewilligung des mit fehlendem Vermögen begründeten Rechtsvorschlages – und einem Nichteintretensentscheid aus prozessualen Gründen unterschieden. Auf diese Frage ist nunmehr einzugehen.

b) Wenn Art. 265a Abs. 1 SchKG von der Endgültigkeit des Entscheides des Einzelrichters spricht, kann diese Endgültigkeit nur der Entscheid in der Sache, d.h. die Nichtbewilligung (Abs. 3) oder die Bewilligung (Abs. 2) des mit fehlendem neuen Vermögen begründeten Rechtsvorschlages betreffen. Es wird in der Lehre aber die Auffassung vertreten, dass es zulässig ist, den Schuldner unter der Androhung vorzuladen, dass bei unentschuldigtem Ausbleiben an der Verhandlung auf seinen Antrag auf Bewilligung des Rechtsvorschlags nicht eingetreten werde, was zur Folge hat, dass der Rechtsvorschlag als nicht erhoben gilt (vgl. Jaeger/Walder/Kull/Kottmann, SchKG II, 4. Auflage, Zürich 1999, Art. 265a, Rz. 4 ohne weitere Begründung). Anders als bei der Bewilligung des Rechtsvorschlages in der Wechselbetreibung ist das summarische Verfahren nach Art. 265a Abs. 1–3 SchKG ein dem ordentlichen, beschleunigten Verfahren vorgelagertes Bewilligungsverfahren, das neben prozessökonomischen Anliegen vorab den Gläubiger besser dokumentieren soll (BBl 1991 III, S. 159). Damit dieser Zweck des summarischen Bewilligungsverfahrens erreicht werden kann und um die vom Gesetz verlangte Feststellung des Umfanges des neuen Vermögens im Falle einer Nichtbewilligung des Rechtsvorschlages überhaupt treffen zu können, muss dem Schuldner für den Fall der Säumnis das Nichteintreten mit der Wirkung, dass die Einrede nicht als erhoben gilt, angedroht werden können. Weil sich nämlich die Parteirollenverteilung aufgrund des Entscheides im summarischen Verfahren nicht auf die Behauptungs- und die Beweislast im beschleunigten Verfahren auswirkt (Gut/Rajower/Sonnenmoser, a.a.O., S. 537; Brönnimann, a.a.O., S. 231, Huber, a.a.O., Art. 265a, Rz. 41; Gasser, a.a.O., S. 19), bringt dem beweisbelasteten Gläubiger auch eine Nichtbewilligung des Rechtsvorschlages des Schuldners mit einer bloss fiktiven und nicht effektiven Feststellung des neuen Vermögens im Umfang der betriebenen Forderung nichts. Die Behauptungs- und Beweislast im beschleunigten Verfahren gemäss Art. 265a Abs. 4 SchKG umzukehren, würde dem Schuldner dagegen die verpönte Beweislast für negative Tatsachen aufdrängen. Dem gesetzgeberischen Willen, den Gläubiger besserzustellen (BBl 1991 III, S. 158) wird ausserdem auch besser entsprochen, wenn dieser aufgrund der Säumnis des Schuldners im summarischen Bewilligungsverfahren, die Einrede des fehlenden neuen Vermögens vom Tisch hat. Aus diesen Gründen muss ein Nichteintretensentscheid mit der Folge, dass der Schuldner in der laufenden Betreibung die Einrede des fehlenden neuen Vermögens verwirkt, zulässig sein. Die Verwirkung der Einrede beseitigt hingegen den Rechtsvorschlag insoweit nicht, als er gegen den Bestand der betriebenen Forderung bzw. gegen deren Vollstreckbarkeit gerichtet ist.

c) Wird das Bewilligungsverfahren aber nicht durch einen Entscheid in der Sache, sondern gestützt auf das anwendbare kantonale Verfahrensrecht mit einem Nichteintretensentscheid erledigt, findet die kantonale Rechtsmittelordnung uneingeschränkt Anwendung. Der Einzelrichter ist vorliegend auf die Einrede infolge Säumnisses des Schuldners gestützt auf § 168 ZPO nicht eingetreten. Diesen Entscheid fällte der Einzelrichter mithin in Anwendung von kantonalem Verfahrensrecht, welches gestützt auf Art. 25 Abs. 2 lit. d SchKG i.V.m. § 18 EVzSchKG Anwendung findet. Das Bewilligungsverfahren ist summarischer Natur, weshalb vorliegend, da die betriebene Forderung Fr. 3000.– übersteigt, Rekurs nach § 204 Abs. 1 ZPO zulässig ist.

(Beschluss vom 7.12.1999; KG 425/99 RK 2).

  

40

Beurkundung und Beglaubigung

 Die «Fernbeglaubigung» einer Unterschrift ist unzulässig.

Aus dem Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin teilte dem Kantonsgericht als Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte und Urkundspersonen mit, es habe sich im Laufe eines Verfahrens gezeigt, dass der Beschwerdegegner eine Beglaubigung bezüglich einer Unterschrift von M. K. getätigt habe, ohne dass diese in seiner persönlichen Anwesenheit die Unterschrift abgegeben oder anerkannt haben soll.

Aus den Erwägungen:

2. Die Beschwerdeführerin rügt, dass der Beschwerdegegner eine Unterschriftsbeglaubigung vorgenommen habe, ohne dass die Unterzeichnende die Unterschrift in dessen Gegenwart vollzogen oder aber in dessen Gegenwart als echt anerkannt habe.

a) Vorab ist festzustellen, dass vorliegend keine Falschbeurkundung im Sinne von Art. 317 StGB durch den Beschwerdegegner zur Diskussion steht. Der Beschwerdegegner hat nur bescheinigt, dass Frau M. K. die vorstehende Unterschrift (nämlich die unter dem Text «Bestätigung und Ermächtigung») als ihre Unterschrift anerkenne, was sie unbestrittenermassen vor der Beglaubigung auch getan hat (act. 2). Gerügt seitens der Beschwerdeführerin wird einzig das Vorgehen des Beschwerdegegners, nämlich, dass er die Beglaubigung bloss aufgrund einer telefonischen Bestätigung hin vorgenommen und somit vorschriftswidrig gehandelt habe.

b) Zwar besagt die notarielle Unterschriftsbeglaubigung, dass die Person X. die Urheberin der vorliegenden Unterschrift und der unterzeichnete Text dieser zuzuordnen sei, doch wird der Text selber nicht zur öffentlichen Urkunde. Die Urkundsperson hat weder kontrolliert noch bestätigt sie, dass der betreffende Text dem wirklichen Wissen und Willen der unterzeichnenden Person entspricht. Die Urkundsperson braucht sich um diesen Text, seine Vernünftigkeit, Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit usw. nicht im Einzelnen zu kümmern. Die Zuordnung des Textes zum Autor der Unterschrift ist die einzige Tatsache, welche die beglaubigende Urkundsperson bestätigt (Christian Brückner, Schweizerisches Beurkundungsrecht, Rz. 3245 zu § 115). Die Urkundsperson kann indessen nur als richtig beurkunden, was sie selbst festgestellt hat. Dementsprechend kann sie nur beglaubigen, dass eine Unterschrift von einer bestimmten, namentlich genannten Person stamme, wenn sie sich persönlich davon überzeugt hat, dass die Person, welche die Unterschrift vor ihr vollzogen oder als echt anerkannt hat, mit der im Beglaubigungsvermerk bezeichneten Person identisch ist (ZG-GVP 1985/86, S. 111).

Es stellt sich somit die Frage, ob der Beschwerdegegner mit der bloss telefonischen Nachfrage die Formvorschriften der VO über die Beglaubigung und Beurkundung verletzt hat.

c) § 13 der VO über die Beurkundung und Beglaubigung vom 28. Juni 1979 (nGS II-176; nachfolgend VO genannt) besagt, dass eine Unterschrift oder ein Handzeichen nur beglaubigt werden darf, wenn die Unterschrift oder das Handzeichen in Gegenwart der Urkundsperson vollzogen oder von der betreffenden Person als echt anerkannt wird.

Der Formulierung von § 13 der VO ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob sich die Voraussetzung «in Gegenwart der Urkundsperson» auch zwingend auf den zweiten Teil des Satzes bezieht, nämlich für den Fall, dass die Unterschrift bereits vollzogen ist und nur noch von der betreffenden Person als echt anerkannt werden muss. Auch ist die Möglichkeit der sogenannten Fernbeglaubigung in der VO nicht explizit verboten. Dennoch kann diese Form der Beglaubigung einer Unterschrift in Berücksichtigung der übrigen Bestimmungen der VO nicht als zulässig erachtet werden.

aa) Anzumerken ist, dass den Materialien bezüglich des Instituts der sogenannten Fernbeglaubigung nichts zu entnehmen ist; auch in Zusammenhang mit den §§ 5 und 13 der VO ist diesbezüglich nichts Ausdrückliches festgehalten worden.

bb) Ein Gesetz bzw. ein Gesetzesartikel muss in erster Linie aus sich selbst heraus, d.h. nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen ausgelegt werden. Es darf namentlich nicht blindlings auf ein einzelnes Wort abgestellt werden. Der wahre Sinn der Vorschrift wird vielmehr erst erkennbar, wenn ihr Wortlaut in seiner Gesamtheit in Betracht gezogen wird und auch die weiteren massgebenden Auslegungsgesichtspunkte im Auge behalten werden (BGE 123 III 95).

Die Verordnung über die Beurkundung und Beglaubigung vom 28. Juni 1979 gliedert sich in fünf Abschnitte. Der zweite Abschnitt enthält einige für die Beurkundung und Beglaubigung wesentliche allgemeine Bestimmungen, der vierte Abschnitt ist im Speziellen der Beglaubigung gewidmet. So hält unter dem Titel allgemeine Bestimmungen § 3 der VO ausdrücklich fest, dass die Urkundsperson sich über die Identität sowie die Urteils- und Handlungsfähigkeit der vor ihr erscheinenden Person zu vergewissern hat. Dass sich dieser Absatz nicht bloss auf die Beurkundungen bezieht, wird in Absatz 2 deutlich, der vorsieht, dass bei Zweifel von der Beurkundung oder Beglaubigung einstweilen abzusehen sei. Aber auch § 7 der VO macht deutlich, dass eine Beglaubigung wohl nur in Anwesenheit der beteiligten Person durchzuführen ist. Gemäss dieser Vorschrift hat die Urkundsperson ein Register zu führen, aus dem die von ihr vorgenommenen Beurkundungen und Beglaubigungen, der daran beteiligten Personen und das Datum ersichtlich sind. Wenn also aufgrund des blossen Wortlautes von § 13 der VO die Zulässigkeit der Fernbeglaubigung noch in Betracht zu ziehen wäre, so wird diese Form der Beglaubigung durch die allgemeinen Bestimmungen bereits wieder eingeschränkt resp. verunmöglicht. Die herrschende Lehrmeinung erachtet denn auch die Form der Beglaubigung unter Abwesenden nur dann als zulässig, wenn diese vom kantonalen Gesetzgeber nicht ausdrücklich verboten oder eingeschränkt werde (vgl. Brückner, a.a.O., Rz. 3243 zu § 115 mit Hinweisen; vgl. Kurt Sidler, Kurzkommentar zum luzernischen Beurkundungsgesetz, § 42). Da dies nach dem Gesagten für das schwyzerische Beglaubigungswesen gerade zutrifft, ist entgegen der Meinung des Beschwerdegegners die Fernbeglaubigung nicht zulässig.

d) Aber selbst wenn die Fernbeglaubigung grundsätzlich als zulässig zu erachten wäre, hätte sie in concreto gar nicht zur Anwendung gelangen dürfen. Wenn sich der Beschwerdegegner nun für den vorliegenden Fall auf die Lehrmeinung von Peter Ruf beruft, so übersieht er, dass Ruf die telefonische Anerkennung zwar als zulässig erachtet, dies aber nur, wenn dem Notar der Unterzeichner persönlich so gut bekannt ist, dass keine Zweifel über die Identität des telefonischen Gesprächspartners besteht (Peter Ruf, Notariatsrecht, 1995, Rz. 1521 zu § 37). Aber auch der vom Beschwerdegegner im Weiteren angerufene Kommentator Christian Brückner spricht in Zusammenhang mit der sogenannten Fernbeglaubigung von den der Urkundsperson «persönlich bekannten Personen» und sieht als zusätzliche Voraussetzung für die Beglaubigung unter Abwesenden, dass die Urkundsperson die zu beglaubigende Unterschrift bereits kennt oder dass sie ein zuverlässiges Muster zum Vergleich zur Hand hat (Brückner, a.a.O., Rz. 3308 zu § 116, vgl. auch Rz. 3314ff. zu § 116). Bei der Fernbeglaubigung genügt also nicht bloss eine telefonische Bestätigung, sondern es versteht sich von selbst, dass die Identität des telefonischen Gesprächspartners mitbekannt ist. Wenn nun aber ein Unbekannter von der Urkundsperson die Unterschriftsbeglaubigung verlangt, besteht ein echtes Fälschungsrisiko und damit ein echter Kontrollbedarf bezüglich Unterschriftenechtheit und Identität des Unterzeichners (Brückner, a.a.O., Rz. 3310f. zu § 116). Bei Erst-Beglaubigungen, d.h., wenn die Urkundsperson die Unterschrift eines ihm Unbekannten zu beglaubigen hat, ist die blosse Protokollnahme der Anerkennungserklärung des Erschienenen ungenügend. Eine sorgfältige Identitätskontrolle des Unterzeichners, d.h. die Würdigung des vorgelegten Ausweispapiers nach Inhalt, Rechtsnatur, Alter und äusserem Zustand, ein Vergleich des Passfotos mit dem Aussehen der erschienenen Person und eine angemessene Kontrolle der anderen Merkmalsbeschreibungen und Personalangaben ist in einem solchen Fall geboten (Brückner, a.a.O., Rz. 3313 zu § 116).

aa) Der Beschwerdegegner behauptet nicht, M. K. persönlich gekannt und sie deshalb auch am Telefon an ihrer Stimme erkannt zu haben. Auch macht er nicht geltend, ihre Unterschrift gekannt resp. anhand eines ihm im Original vorgelegenen Ausweispapiers verglichen zu haben. Aufgrund der Aussagen von A. und M. K. sowie der Stellungnahme des Beschwerdegegners ist vielmehr davon auszugehen, dass sich die Parteien (mit Ausnahme von A. und M. K.) nicht persönlich gekannt haben, geschweige denn, dass der Beschwerdegegner die Unterschrift von M. K. einer eingehenden Kontrolle unterzogen hätte. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Beschwerdegegner selber die besagte «Bestätigung und Ermächtigung» vom 12. Dezember 1996 anhand des Fahrzeugausweises von M. K. aufgesetzt hatte, zumal der Fahrzeugausweis weder mit der Unterschrift von M. K. versehen ist noch dem Beschwerdegegner im Original vorgelegen war. Dass es sich tatsächlich um die Unterschrift von M. K. gehandelt hat, ändert genauso wenig daran.

Gemäss § 3 der VO hat sich die Urkundsperson unter anderem über die Identität der vor ihr erschienenen Person zu vergewissern. Nachdem der Beschwerdegegner M. K. weder persönlich gekannt noch Identitätsabklärungen vorgenommen hatte, hat er gegen die ihm als Urkundsperson gemäss den §§ 3ff. der VO auferlegten Prüfungs- bzw. Sorgfaltspflichten verstossen.

(Beschluss vom 21.12.1999; KG 183/99 RK 1).

Anmerkung: Der Kantonsrat hat am 24. Mai 2000 einer Totalrevision der Verordnung über die Beurkundung und Beglaubigung zugestimmt. § 19 derselben hält ausdrücklich fest, dass eine Unterschrift oder ein Handzeichen nur beglaubigt werden darf, wenn in Gegenwart der Beglaubigungsperson die Unterschrift oder das Handzeichen vollzogen oder von der betreffenden Person als echt anerkannt wird. Nach dem Bericht des Regierungsrates zur Vorlage an den Kantonsrat sollte damit verdeutlicht werden, dass Fernbeglaubigungen nicht zulässig sind.