EGV-SZ 1998

[Entscheide Nr. 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41]

 

II. Zivil- und Strafgerichte

28

Zivilrecht

– Kumulation von Versicherungsleistungen.

Aus dem Sachverhalt:

A. Der Kläger A. ist Fahrschullehrer. Mit Beginn 1. Februar 1993 schloss er bei der X.-Versicherungen eine Motorfahrzeugversicherung mit der Police Nr. 7.477.466 für den Personenwagen Chrysler Voyager 3.3., Kontrollschild SZ ..., ab. Gemäss der darin integrierten Unfallversicherung hat die Beklagte bei Unfall für den Halter, Lenker oder Mitfahrer vom 15. Tag an während maximal 720 Tagen ein Taggeld von Fr. 50.– zu bezahlen. Als Vollversicherung für Fahrschulen erstreckt sich die Versicherung nicht nur auf das versicherte Fahrzeug allein, sondern auch auf Unfälle bei der Benützung der übrigen Fahrschulfahrzeuge und der Fahrzeuge der Fahrschüler, wobei in diesen Fällen die Deckung grundsätzlich auf Fahrschulfahrten beschränkt ist. Eine gleichlautende Versicherung hat der Kläger unter der Police Nr. 7.161.422 auch für sein Fahrzeug VW Golf, VR 6, Kontrollschild SZ ..., abgeschlossen.

B. Am 26. September 1995 erlitt der Kläger als Fahrlehrer auf dem Motorrad seines Fahrschülers B. bei der Ausfahrt .... einen Unfall. Der Kläger erlitt ein kombiniertes Schädel-Hirn-Trauma und ein HWS-Distorsionstrauma. Infolge dieses Unfalls war A. voll resp. teilweise arbeitsunfähig.

Die dem Kläger aus der Police Nr. 7.161.422 zustehenden Taggelder hat die Beklagte unbestrittenermassen bezahlt. Dagegen verweigert die Versicherung eine kumulative Auszahlung gestützt auf die Police Nr. 7.477.466 des Chrysler Voyager.

C. Am 14. Mai 1997 klagte A. beim Bezirksgericht gegen die X.-Versicherungen und beantragte, die Beklagte sei zu verpflichten, ihm aus der Police Nr. 7.477.466 die versicherten Taggelder nach Ermessen des Gerichts zu bezahlen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beklagten. Die Beklagte stellte den Antrag, auf die Klage sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. ...

D. Mit Urteil vom 24. September 1997 wies das Bezirksgericht die Klage ab. (...) Das Bezirksgericht lehnte eine Kumulation der Taggeldleistungen im wesentlichen mit der Begründung ab, dass eine vernüftige Auslegung des Versicherungsvertrages zum Ergebnis führe, dass der Kläger im Falle eines Unfalles mit dem Fahrzeug seines Fahrschülers nicht besser gestellt sein könne als bei einem Unfall mit dem versicherten Fahrschulfahrzeug und es kaum der Absicht der Parteien habe entsprechen können, dass das Taggeld von der Anzahl der Fahrzeuge der Fahrschule abhänge.

Aus den Erwägungen:

2. Der Kläger erhebt Ansprüche auf Ausrichtung von Taggeldern aus der Police Nr. 7.477.466 des Fahrzeuges Chrysler Voyager. Die Beklagte verweigert die Ausrichtung von Taggeldleistungen mit der Begründung, der Kläger habe bereits aus der Police Nr. 7.161.422 (VW Golf) Taggelder bezogen und habe keinen Anspruch auf eine zweimalige Ausrichtung derselben Versicherungsleistungen.

a) Bei der umstrittenen Taggeldversicherung handelt es sich um eine als Summenversicherung ausgestaltete Personenversicherung. Die abgeschlossene Versicherung bezweckt nicht, einen bestimmten Schaden auszugleichen, sondern sie gewährt bei Eintritt des Versicherungsereignisses eine zum voraus vereinbarte Summe. Es gilt bei dieser Versicherungsart das Prinzip der unbegrenzten Kumulation: hat der Anspruchsberechtigte im gleichen Versicherungsfall für die gleichen Folgen einen Anspruch aus der Personenversicherung und daneben Ansprüche aus andern Versicherungs- oder sonstigen Rechtsverhältnissen, so kann er den Anspruch aus der Personenversicherung uneingeschränkt geltend machen, wie wenn keine Ansprüche aus anderen Versicherungs- und Rechtsverhältnissen bestünden. Die Versicherungssumme kann in beliebiger Höhe festgelegt werden; uneingeschränkt zulässig sind auch mehrere Personenversicherungen (Maurer, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 2. A., S. 152 und 390; König, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. A., S. 286, 386f.).

b) Gemäss der von der Beklagten angebotenen Versicherung für Fahrschulen erstreckt sich bei der sogenannten «Vollversicherung» der Versicherungsumfang bezüglich der Unfallversicherung nicht bloss auf das in der Police bezeichnete Fahrzeug, sondern wie erwähnt auf die übrigen Fahrschulfahrzeuge sowie die Fahrzeuge der Fahrschüler. Unterschiedlich ist die Deckung bei diesen drei Arten von Fahrzeugkategorien hinsichtlich des Fahrzweckes. Bei dem in der Police angegebenen Fahrzeug (vollversichertes Fahrschulfahrzeug) sind nicht nur Unfälle bei Fahrschulfahrten, sondern auch bei privaten Fahrten durch die Versicherung gedeckt. Bei den «übrigen Fahrschulfahrzeugen» gewährt die Versicherung insbesondere keine Deckung bei Unfällen während privater Fahrten, und die Fahrlehrer sind nur in Anwesenheit der Fahrschüler versichert. Versichert sind auch Unfälle bei der Benützung der Fahrzeuge der Fahrschüler, wobei hier die Deckung grundsätzlich auf Fahrschulfahrten beschränkt ist.

c) Das Konzept der von den Beklagten angebotenen Motorfahrzeug-Unfallver-sicherung für Fahrschulen bezweckt, dass mit der Vollversicherung eines Fahrzeuges der Fahrschule auch Unfälle bei Benützung anderer Fahrzeuge – sei es von übrigen Fahrzeugen der Fahrschule oder von Fahrzeugen der Fahrschüler – gedeckt sind, soweit sie im Zusammenhang mit der Fahrschultätigkeit erfolgten. Es handelt sich insofern um eine Art Betriebsunfallversicherung, welche nicht als eigenständige Versicherung abgeschlossen wurde, sondern an das in der Police bezeichnete Fahrzeug gekoppelt ist. Ausgehend von diesem Konzept genügte es an sich, für Fahrschulfahrten die vereinbarte Versicherungsdeckung bei Unfällen zu erreichen, wenn nur für ein Fahrzeug eines Fahrschulbetriebes eine Vollversicherung vereinbart wird und für die weiteren Fahrzeuge eine übliche Motorfahrzeugversicherung – sei es mit oder ohne Insassenunfallversicherung – abgeschlossen wird.

d) Ausgehend vom Wortlaut der Vertragsbedingungen ist der vom Kläger erlittene Unfall durch die besagte Unfallversicherung des Chrysler Voyager gedeckt. Der Unfall ereignete sich auf einem Fahrzeug eines Fahrschülers, für welchen Fall die Versicherung Deckung gewährt und damit auch im vereinbarten Ausmass Taggelder auszurichten hat. Es liegt insofern keine unklare Vertragsbestimmung vor, die vom Richter auszulegen wäre. Auch wenn der Wortlaut eines Vertrages unzweideutig ist, ist er jedoch nicht massgebend, wenn aus anderen Indizien ein anderer wirklicher Wille der Parteien abzuleiten ist (siehe Art. 18 Abs. 1 OR; Kramer, Berner Kommentar, N. 47 zu Art. 18 OR). Praxisgemäss sind denn auch – wie bei jedem Vertrag – allgemeine Vertragsbedingungen beim Versicherungsvertrag nicht nur nach ihrem Wortlaut auszulegen. Ist der wirkliche Wille der Parteien nicht ermittelbar, so muss auf den mutmasslichen Willen abgestellt werden. Er ist nach dem Vertrauensprinzip aufgrund aller Umstände des Vertragsschlusses zu ermitteln. Dabei hat das Gericht zu berücksichtigen, was sachgerecht ist, weil nicht anzunehmen ist, dass die Parteien eine unangemessene Lösung gewollt haben. Der Richter orientiert sich dabei am dispositiven Recht, weil derjenige Vertragspartner, der dieses verdrängen will, das mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck bringen muss. Schliesslich und subsidiär müssen mehrdeutige Klauseln nach der Unklarheitenregel gegen den Versicherer als deren Verfasser ausgelegt werden (BGE 122 III 121, 119 II 372, je mit weiteren Hinweisen).

aa) Der Kläger hat für seine beiden Fahrzeuge eine «Vollversicherung» abgeschlossen, beide Versicherungen mit der betriebsspezifischen Erweiterung bezüglich Unfalldeckung auf weitere Fahrzeuge. Beide Versicherungen sind bezüglich des Taggeldanspruches Summenversicherungen und deshalb kumulierbar. Beide Versicherungen begründen einen voneinander unabhängigen Anspruch, auch wenn sie für teilweise dasselbe Risiko Deckung garantieren. Der Wortlaut der Versicherungsvereinbarung ist unzweideutig: der Kläger hat als Versicherungsnehmer Anspruch auf Ausrichtung des Taggeldes (entsprechend seinem Grad der Arbeitsunfähigkeit) aus der Police Nr. 7.477.466, nachdem der Unfall unbestrittenermassen auf dem Motorrad des Fahrschülers anlässlich der Erteilung des Fahrunterrichts passierte.

bb) Die Vorinstanz hat die Ablehnung des Taggeldanspruches im wesentlichen damit begründet, dass eine vernüftige Auslegung des Versicherungsvertrages zum Ergebnis führe, dass der Kläger im Falle eines Unfalles mit dem Fahrzeug seines Fahrschülers nicht besser gestellt sein könne als bei einem Unfall mit dem versicherten Fahrschulfahrzeug. Dieser Folgerung liegt die Annahme der Vorinstanz zugrunde, dass unbestrittenermassen bei einem Unfall mit dem (vollversicherten) Fahrschulfahrzeug der Fahrlehrer nur die Ansprüche aus der Police des betreffenden Fahrzeuges verlangen könne. Eine derartige Annahme hat entgegen der Auffassung der Vorinstanz der Kläger nie zugestanden. Bereits in seiner Klageschrift hielt er dafür, dass dem nicht so sei, weil gemäss der Regelung in den besonderen Vertragsbedingungen auch Fahrschulunfälle auf den übrigen Fahrschulfahrzeugen versichert seien. Die Annahme des Klägers, bei einem Unfall auf einem (der beiden) vollversicherten Fahrzeuge erhalte er sowohl aus der Police des verunfallten Fahrzeuges als auch aus derjenigen des anderen Fahrzeuges Versicherungsdeckung, erscheint aufgrund des Wortlautes zumindest nicht ausgeschlossen, gilt doch aus der Sicht der einen Police das jeweils andere Fahrzeug des Klägers als «übriges Fahrschulfahrzeug» im Sinne der Regelung gemäss den Vertragsbedingungen. Damit aber liegt analog zum vorliegenden Fall eine «doppelte» Versicherungsdeckung vor, mit dem Anspruch auf Auszahlung des zweifachen Taggeldes. Ob letztendlich bei dieser Fallkonstruktion – wenn also der Kläger bei einer Fahrschulstunde im eigenen Fahrzeug verunfallen würde – ebenfalls ein doppelter Taggeldanspruch zu bejahen ist, kann letztlich aber dahingestellt bleiben. In casu vermag die von der Vorinstanz postulierte vernüftige Vertragsauslegung nicht zu hindern, dass der Kläger den Taggeldanspruch aus beiden Versicherungsverträgen erheben kann, nachdem diese beide für dasselbe Ereignis Deckung gewähren, es sich um eine kumulierbare Summenversicherung handelt und es nicht als unvernünftig erscheint, wenn ein selbständiger Fahrlehrer seinen Erwerbsausfall mit 2 x 50 Franken versichert. Für diese dem Vertragswortlaut entsprechende Auslegungen sprechen auch folgende Gründe:

cc) Als professionelle Anbieterin von Motorfahrzeug- und Unfallversicherungen hätte es für die Beklagte leicht voraussehbar sein müssen, dass bei Abschluss zweier «Vollversicherungen» mit demselben Fahrlehrer eine Kumulation von Taggeldleistungen in demselben Versicherungsfall entstehen kann. Sie kann sich heute nicht aus der Verantwortung ziehen mit der Argumentation, dass seitens der Produkteentwickler es schlicht unvorhersehbar gewesen sei, dass ein Versicherungsnehmer überhaupt auf die Idee kommen könnte, die Leistungen im Schadenfall kumulativ für sich beanspruchen zu wollen. Die beabsichtigte betriebsspezifische Erweiterung der Unfallversicherung auf sämtliche Fahrschulfahrten in weiteren Fahrzeugen wäre in concreto durch Abschluss bloss einer «Vollversicherung» oder durch Anbringen eines entsprechenden Vorbehalts auf einer der zwei Fahrzeugpolicen möglich gewesen. Der Kläger als Versicherungsnehmer konnte davon ausgehen, dass die Beklagte die Konsequenzen und Folgen ihrer Versicherungsabschlüsse bedenken würde. Wenn sie dennoch dem Kläger für seine beiden Fahrzeuge die «Vollversicherung» für Fahrschulen mit der erweiterten Versicherungsdeckung vorbehaltlos gewährte, so hat sie die Folgen ihres Handelns zu tragen. Nicht entscheidend ist letztlich, ob dem Kläger bei Abschluss der Verträge eine mögliche doppelte Taggeldauszahlung bei demselben Unfallereignis bewusst war oder nicht. Der Kläger hat für beide selbständigen Autoinsassenversicherungen Prämien bezahlt. Er kann sich deshalb in guten Treuen auf den Wortlaut des Vertrages berufen und die in der Autoinsassenversicherung des Chrysler Voyager für den vorliegenden Versicherungsfall versprochene Taggeldleistung einfordern.

dd) Die Privatassekuranz stuft im allgemeinen die Prämien mehr oder weniger stark nach dem Risiko ab. Sie folgt damit dem Prinzip der risikogerechten Prämie. Verträge, mit welchen ein kleineres Risiko versichert wird, sehen in aller Regel eine geringere Prämie vor, als solche mit höherem Risiko gleicher Art (Maurer, a.a.O., S. 75).

In casu machte die Beklagte in ihrer Klageantwort Seite 5f. geltend, dass sie mit der Versicherung für Fahrschulen bezweckt habe, dass für die zwei weiteren Kategorien von Fahrschulfahrzeugen, nämlich die Fahrzeuge mit eingeschränkter Versicherung und die Fahrzeuge der Fahrschüler, bei einem versicherten Ereignis bezüglich der Unfallversicherung auf eine beliebige Vollversicherung zurückgegriffen werden könne und dennoch immer Klarheit bezüglich der Leistungen bestehe; für diese beiden letzterwähnten Kategorien sei die Unfalldeckung im Sinne einer «Bevorzugung» der Fahrlehrer für ihre Funktion als Vermittler weiterer Kunden prämienfrei versichert worden. Ihr Vorbringen widerspricht dem einleitend ausgeführten Grundsatz, wonach in der Privatassekuranz die Prämie mehr oder weniger risikogerecht abgestuft wird. Davon, dass eine Privatversicherung in Beachtung dieses Prinzips ihre Prämien – insbesondere bei einer Summenversicherung – risikogerecht festlegt, kann in der Regel ein Versicherungsnehmer ausgehen. Demnach kann und darf er auch annehmen, dass er als «Gegenleistung» zu den bezahlten Prämien im Versicherungsfall die garantierte Summenleistung erhält. Unmassgeblich ist in concreto deshalb, ob die Beklagte für die betriebsspezifische Erweiterung der Unfalldeckung intern gegenüber einer «normalen» Autoinsassenversicherung nicht eine Zusatzprämie berechnet hat. Der Kläger als Versicherungsnehmer jedenfalls konnte in guten Treuen davon ausgehen, dass die Beklagte ihre Prämie für die angebotene Vollversicherung risikogerecht gestaltet. Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme kann die Beklagte nicht dartun, insbesondere behauptet sie nicht, sie habe den Kläger beim Abschluss der beiden «Vollversicherungen» für seine Fahrzeuge VW Golf und Chrysler Voyager ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die betriebsspezifische Erweiterung der Unfalldeckung auf weitere Fahrzeuge prämienfrei erfolge. Entsprechende Hinweise ergeben sich auch nicht aus der aufgelegten Police Nr. 7.477.466.

ee) Vorliegend nicht relevant ist, ob die Vertragsauslegung des Klägers bei grösseren Fahrschulen mit mehreren vollversicherten Fahrschulfahrzeugen zu absurden Ergebnissen führen würde, wie die Vorinstanz zur Begründung ihres ablehnenden Standpunktes geltend macht. In der schweizerischen Praxis gilt im Gegensatz zu der in Deutschland vorherrschenden Meinung bei der Auslegung von vorgeformten Vertragsbestimmungen nicht der Grundsatz einheitlicher Auslegung. Versicherungsbedingungen sind deshalb, auch wenn sie für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert sind, individuell, anhand der Umstände des Einzelfalls, auszulegen (Maurer, a.a.O., S. 147; Jäggi/Gauch, Zürcher Kommentar, N. 465ff. zu Art. 18 OR). Die gleichen vorgeformten Bestimmungen können als Inhalt verschiedener Verträge durchaus einen verschiedenen Sinn haben. Es kommt darauf an, wie der betreffende Kunde das Vorgeformte unter den für ihn gegebenen Umständen auffassen durfte und musste (Schönenberger/Jäggi, Zürcher Kommentar, N. 490 zu Art. 1 OR mit Hinweisen). In casu konnte der Kläger wie dargetan den Abschluss zweier «Vollversicherungen» für seine beiden Fahrzeuge dahingehend deuten, dass im Falle eines Unfalles mit einem Fahrzeug eines Fahrschülers bezüglich Taggeld jede Police die versprochene Leistung garantiert. Ob ein Fahrschulunternehmen mit zahlreichen Fahrzeugen in einem analogen Fall die besonderen Vertragsbedingungen in gleicher Weise auffassen dürfte, wäre möglicherweise anders zu beurteilen. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass die Beklagte entgegen der Konzeption ihres Versicherungsproduktes, das zwischen dem vollversicherten Fahrschulfahrzeug einerseits und den übrigen Fahrschulfahrzeugen anderseits unterscheidet, in einem solchen Fall über alle Fahrzeuge der Fahrschule ohne Vorbehalt die «Vollversicherung» abschliessen würde.

e) Aus den dargelegten Gründen ist der klägerische Anspruch auf Ausrichtung von Taggeldern aus der Police Nr. 7.477.466 des Chrysler Voyager zu bejahen.

(Urteil vom 1.4.1998; KG 449/97 ZK).

 

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Zivilrecht

– Art. 286 Abs. 2 ZGB; Passivlegitimation.

Aus den Erwägungen:

1. Die Leistungspflicht des Klägers zur Bezahlung der Unterhaltsbeiträge an seine Tochter basiert auf dem Unterhaltsvertrag vom 19. Dezember 1990. Parteien des Unterhaltsvertrages waren auf der einen Seite der Kläger und auf der anderen Seite das Kind. Das Kind war durch die Beklagte als Inhaberin der elterlichen Gewalt vertreten. In Ziffer 2 des Vertrages wurde ausdrücklich bestimmt, dass sich der Kläger verpflichtet, dem Kind die entsprechenden Unterhaltsbeiträge zu bezahlen. Und in Ziffer 3 wurde im Sinne der Bestimmung von Art. 287 Abs. 1 ZGB darauf hingewiesen, dass der Vertrag für das Kind erst mit der Genehmigung durch die Vormundschaftsbehörde verbindlich sei.

Diese Parteistellung entspricht der gesetzlichen Regelung nach Art. 287 ZGB. Die Verpflichtung zur Leistung eines wiederkehrenden Unterhaltsbetrages wird durch Vertrag zwischen dem Kind und dem unterhaltspflichtigen Elternteil begründet. Ist das Kind unmündig, so wird der Vertrag in seinem Namen vom gesetzlichen Vertreter – ordentlicherweise der Elternteil, dem die elterliche Gewalt zusteht – abgeschlossen (Hegnauer, Berner Kommentar, N. 27 zu Art. 287 ZGB; Breitschmid, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, N. 4 zu Art. 287 ZGB; Hegnauer, Grundriss des Kindesrechts, 1977, S. 121). Die Parteistellung des Kindes im Unterhaltsvertrag entspricht der Neuregelung des Unterhaltsrechts im Kindesrecht. Das Kind ist bezüglich Unterhalt allein in der Gläubigerposition (Art. 289 Abs. 1 ZGB). Auf Unterhalt klagt das Kind gegen den Vater und/oder die Mutter allein (so ausdrücklich Art. 279 Abs. 1 ZGB). Dies im Unterschied zum früheren Recht, als die Mutter in einem Unterhaltsvergleich in eigenem Namen auftreten konnte (aArt. 319 Abs. 3), weil ihr auch ein eigenes Klagerecht zustand (aArt. 307 Abs. 1/309). Das geltende Kindesrecht schliesst aus, dass der Inhaber der elterlichen Gewalt in einem Unterhaltsprozess nach Art. 279ff. ZGB oder im Rahmen eines Unterhaltsvertrages Gläubigerpartei sein kann. Daran ändert der Umstand nichts, dass der gesetzliche Vertreter gemäss Art. 289 Abs. 1 ZGB unter Umständen einen Erfüllungsanspruch haben kann, denn dieser steht ihm nach dem Wortlaut des Gesetzes nur als Vertreter des Kindes zu (M. Metzler, Die Unterhaltsverträge nach dem neuen Kindesrecht, Zürich 1980, S. 37; Hegnauer, a.a.O., N. 21 zu Art. 279/280; Stettler, Das Kindesrecht in SPR III/2, S. 310). Der Unterhaltsanspruch steht somit allein dem Kind zu, so dass der Gewaltinhaber nur in dessen Namen handeln kann. Eine Gläubigerstellung des Gewaltinhabers besteht nur dann, wenn der Unterhaltsanspruch in einem Eheprozess festgelegt wird. In diesem Fall macht der Gewaltinhaber den Anspruch des Kindes in eigenem Namen geltend. Es kommt ihm in diesem Fall Prozessstandschaft zu (Hegnauer, a.a.O., N. 126 zu Art. 279/280).

2. Nach Art. 286 Abs. 2 ZGB setzt der Richter bei erheblicher Veränderung der Verhältnisse den Unterhaltsbeitrag auf Antrag eines Elternteils oder des Kindes neu fest oder hebt ihn auf. Auch in dieser gesetzlichen Bestimmung kommt klar zum Ausdruck, dass auf der Gläubigerseite allein das Kind steht. Dies hat zur Folge, dass eine Abänderungsklage, die vom unterhaltspflichtigen Elternteil erhoben wird, sich gegen das Kind richten muss – und nicht gegen den Gewaltinhaber, da dieser nicht aus eigenem Recht im Sinne einer Prozessstandschaft für das Kind handelt, sondern nur als dessen gesetzlicher Vertreter. Nur wenn der Unterhaltsbeitrag in einem Scheidungsurteil festgelegt worden ist, kann die Klage auch gegen den Elternteil, dem die elterliche Gewalt zusteht, als Prozessstandschafter gerichtet werden (Hegnauer, a.a.O., N. 63 zu Art. 286 ZGB).

3. Der Kläger hat die Abänderungsklage nicht gegen sein Kind erhoben, sondern ausdrücklich gegen die Beklagte. Weder im Rubrum, noch in den Rechtsbegehren oder in der Begründung der klägerischen Rechtsschriften vor Erst- und Zweitinstanz wird darauf hingewiesen, dass P. nur als Vertreterin des Kindes ins Recht gefasst werden soll. Beklagt wird einzig P. Nach dem Gesagten kann ihr jedoch bei Abänderung eines ausserhalb des Scheidungsverfahrens abgeschlossenen Unterhaltsvertrages keine Parteistellung zukommen. Sie kann die Rechte des Kindes nur als Vertreterin des Kindes wahren. Der Beklagten fehlt damit die Passivlegitimation. Die Klage ist abzuweisen, da die falsche Partei eingeklagt wurde. Bei dieser Frage handelt es sich um eine materiell-rechtliche Voraussetzung des eingeklagten Anspruches, und es muss von Amtes wegen geprüft werden, ob die Klage gegen die richtige Partei erhoben wurde. Im Ergebnis hat der Vorrichter die Klage demnach zu Recht verworfen, soweit er auf sie eintrat. Damit entfällt auch die Prüfung, ob die Klage auf Herabsetzung (gegen die richtige Partei) wegen veränderter Verhältnisse allenfalls ganz oder teilweise berechtigt wäre.

4. Den obigen Folgerungen kann nicht entgegengehalten werden, sie seien überspitzt formalistisch. Insbesondere kann – nachdem der Kläger ausdrücklich nur die Beklagte belangt und als Partei bezeichnet hat – nicht angenommen werden, der Kläger habe die Beklagte (sozusagen konkludent) in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin des gemeinsamen Kindes aufführen wollen. Diesen Standpunkt hat der klägerische Vertreter auch bei seiner Stellungnahme an der Berufungsverhandlung nicht eingenommen, nachdem er auf die Frage der Passivlegitimation hingewiesen worden war. Offen bleiben kann, ob eine derartige Interpretation zulässig wäre, wenn beispielsweise die Mutter – ohne Hinweis auf das Vertretungsverhältnis – eine Abänderung der Unterhaltsbeiträge gegen den unterhaltspflichtigen Vater anbegehren würde (siehe auch BGE 83 II 263, E. 1). Sicher geht es im vorliegenden Fall aber nicht an, die Parteirolle der ausdrücklich belangten Beklagten auf das Kind «umzumünzen»; ist es doch Sache der Klagepartei, ausdrücklich zu bezeichnen, gegen wen sie das eingeleitete Verfahren richten will.

(Urteil vom 14.7.1998; KG 510/96 ZK).

 

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Zivilrecht

– Rücktritt vom Totalunternehmer/Totalübernehmervertrag.

Aus den Erwägungen:

Ist nach dem Gesagten die Qualifikation des Vertrages als blosser Baumanagement- bzw. Baubetreuungsvertrag zu verneinen, ist zu prüfen, welchen Regeln der Vertrag bei Rücktritt der Bauherrschaft untersteht.

a) Zu beachten ist vorab, dass der Vertrag nicht nur die gesamte Ausführung der Überbauung zum Gegenstand hatte, sondern auch die Leistung von Planungsarbeiten geschuldet war. Die Architekturarbeiten bestanden in einem Anteil Leistungen in der Projektphase (Detailstudien und Kostenvoranschlag), vor allem aber in den anschliessenden Planungsarbeiten der Vorbereitungsphase der Ausführung, der eigentlichen Ausführungsphase und schliesslich der Abschlussphase (Ziffer 7). Diese Arbeiten umfassten insgesamt 77 Teilleistungsprozente gemäss der SIA-Norm 102. Bei Vertragsabschluss ging man somit davon aus, dass die Vorprojektphase und der grössere Teil der Projektphase (bis und mit Baubewilligungsverfahren) bereits in Form des Projektes A. vorlagen, die Klägerin dagegen – neben den Fachingenieurarbeiten – die abschliessenden Projektierungsarbeiten sowie die anschliessenden Architekturleistungen zu erbringen hatte. Insofern handelte es sich vorliegend nicht bloss um einen Generalunternehmervertrag, sondern um einen sogenannten Totalunternehmervertrag, nachdem die Klägerin über die Bauausführung hinaus auch Planungsarbeiten versprach. Für die Rechtsfolgen des Vertragsrücktritts unerheblich ist dabei, ob sie diese Planungsarbeiten selbst erbrachte oder ihrerseits wiederum an einen Dritten vergab (in welchem Fall man von einem Totalübernehmervertrag spricht; siehe hiezu: Gauch, Der Werkvertrag, 4. A., N. 233). Den Akten ist immerhin zu entnehmen, dass die Klägerin wenigstens die Fachingenieurarbeiten zum Teil im eigenen Unternehmen erbrachte, womit in der Folge der Vertrag als Totalunternehmervertrag bezeichnet werden soll.

b) Die Rechtsnatur des Totalunternehmervertrages ist umstritten. Nach der einen Auffassung qualifiziert er sich als reiner Werkvertrag, und zwar unbesehen darum, ob er auf einem bereits vorhandenen Projekt gründet oder ob das Projekt erst auszuarbeiten ist. Nach anderer Meinung soll dagegen ein gemischtes Vertragsverhältnis vorliegen, das sich in eine auftragsrechtliche Planungsphase und eine werkvertragsrechtliche Ausführungsphase gliedert. Letzterer Meinung, in der Lehre insbesondere von Pedrazzini, SPR VII/1, S. 508, und Mosimann, der Generalunternehmervertrag im Baugewerbe, S. 82ff. vertreten, hat sich die Zivilkammer des Kantonsgerichtes angeschlossen (EGV 1987, Nr. 19). Dieser Auffassung wollte auf Berufung hin das Bundesgericht nicht folgen und qualifizierte den Totalunternehmervertrag mit der wohl herrschenden Meinung in der Doktrin als Werkvertrag (siehe BGE 114 II 55; und bestätigt in 117 II 274; Gauch, a.a.O., N. 237; derselbe in Baurecht 2/89, S. 39; Bühler, Zürcher Kommentar, N. 118 zu Art. 363 OR; Koller, Berner Kommentar, N. 203 zu Art. 363 OR). Diese Auffassung wird insbesondere damit begründet, dass beim Totalunternehmervertrag die einzelnen Handlungen, welche für die Realisierung des geschuldeten Arbeitserfolges (Bauwerk) nötig sind, nicht separat betrachtet werden.

Dieser herrschenden Meinung kann sich die Zivilkammer auch heute nicht anschliessen und verweist in diesem Zusammenhang auf die ausführlich begründeten Argumente in EGV 1987, Nr. 19, wonach zwischen Planungs- und Ausführungsphase beim Totalunternehmervertrag unterschieden werden muss: die Planung – insbesondere in der Vorprojekt- und Projektphase – und damit die konstruktive, funktionale und ästhetische Erarbeitung eines Projektes ist eine typische Mandatsleistung. Die herrschende Ansicht von Lehre und Rechtsprechung hat zur Konsequenz, dass sich ein Bauherr bei einem Totalunternehmervertrag mit integrierter Planung gültig verpflichtet, das noch zu erstellende Projekt (das er nicht kennt und dessen Kosten eventuell noch nicht bekannt sind) ausführen zu lassen. Aufgrund der Werkvertragsregeln hätte er dann, wenn ihm das erarbeitete Projekt nicht passt oder ihm beispielsweise die veranschlagten Kosten als zu hoch erscheinen, den Totalunternehmer vollumfänglich schadlos zu halten (Art. 377 OR), es sei denn, der Richter würde aufgrund der konkreten Vertragsgestaltung und der Interessenlage der Parteien eine Vertragsergänzung vornehmen und ihm so ermöglichen, gegen Entschädigung der bereits erbrachten Leistungen vom Vertrag zurückzutreten, ohne schadenersatzpflichtig zu werden (so wie im erwähnten Entscheid des Kantonsgerichtes durch das Bundesgericht geschehen, in der publizierten Fassung BGE 114 II 53, jedoch nicht veröffentlicht). In Übereinstimmung mit Hans Merz, in: ZbJV 1990, S. 272, kann die Zivilkammer einer solchen Lösung nicht zustimmen, nicht zuletzt auch aus Praktikabilitätsgründen und aus der Überlegung heraus, dass damit die Streitbeilegung vor Anrufung des Richters nicht gefördert wird. Solange die Planungsphase (Projektphase) nicht abgeschlossen und das auszuführende Projekt nicht genehmigt ist, soll der Bauherr gegen Entschädigung der vom Unternehmer bereits erbrachten Leistungen (jedoch nicht gegen Erstattung des vollen positiven Vertragsinteresses) vom Vertrag zurücktreten können. Das setzt aber voraus, dass der Totalunternehmervertrag als gemischter Vertrag zu beurteilen ist, welcher erlaubt, je nach den konkreten Umständen eine sachgerechte Lösung nach Massgabe des Auftrags- oder Werkvertragsrechts zu finden (siehe BGE 109 II 464ff.). Untersteht dagegen der Totalunternehmervertrag auch in der Projektierungs-phase dem Werkvertragsrecht, wird der Bauherr indirekt gezwungen, ein ihm nicht genehmes Projekt ausführen zu lassen, weil er fürchtet, den Totalunternehmer im Falle des Rücktritts schadlos halten zu müssen.

(Urteil vom 24.11.1998; KG 234/96 ZK).

 

31

Zivilprozessrecht

– Klageänderung.

Aus den Erwägungen:

Das Bezirksgericht hat den Beklagten, gestützt auf Art. 62 Abs. 1 OR zur Rückerstattung des Betrages von Fr. 60000.– an die Klägerin verpflichtet. Vor Erstinstanz machte die Klägerin geltend, die Rückzahlungspflicht des Beklagten ergebe sich aus unerlaubter Handlung, eventuell aus ungerechtfertigter Bereicherung. Im wesentlichen den gleichen Standpunkt hat sie in ihrer Berufungsbegründung eingenommen. Erst in der Berufungsduplik macht die Klägerin neu geltend, dass sich der klägerische Anspruch auch aus Vertragsrecht ergebe. Bereicherungsrecht käme nur subsidiär zur Anwendung, was die Vorinstanz unterlassen habe zu prüfen. Sie macht neu einen vertraglichen Schadenersatzanspruch geltend, der bestehe, weil der Beklagte aufgrund einer besonderen vertraglichen Ermächtigung seinen periodischen Saläranspruch gegenüber der I jeweils aus dem Gesellschaftsvermögen der D. AG befriedigt habe. Diese Ermächtigung ergebe sich allein aufgrund des Vertragsverhältnisses zwischen D. und dem Beklagten und könne nicht von der I kommen, da mit Bezug auf das Vermögen der D. als einer eigenständigen juristischen Person die I gar keine Verfügungsmacht oder -befugnis haben konnte. Soweit eine Ermächtigung nicht vorgelegen habe, habe sich der Beklagte im Moment des Bezugs einer Vertragsverletzung schuldig gemacht. Dies gelte insbesondere mit Bezug auf den Betrag von Fr. 60000.–, da hier jegliche Ermächtigung gefehlt habe. Der Beklagte habe eine positive Vertragsverletzung begangen, weil er sich pflichtwidrig verhalten habe. Er habe als Organ der D. nicht dafür gesorgt, dass die Gesellschaft, deren Interessen er zu wahren hatte, wieder zu ihrem Geld komme.

Im folgenden ist zu beurteilen, auf welchem Rechtsgrund der geltend gemachte Anspruch der Klägerin basiert. Handelt es sich nämlich um einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung oder aus unerlaubter Handlung, wäre die Verjährung eingetreten. Handelt es sich dagegen um einen Vertragsanspruch der Klägerin, stellte sich die Frage der Verjährung nicht und wäre der Anspruch gegen den Beklagten materiell zu beurteilen.

a) Das Gericht wendet das Recht von Amtes wegen an (§ 53 ZPO). An die rechtliche Begründung der Parteianträge ist es nicht gebunden. Es genügt, wenn die Parteien diejenigen Tatsachen rechtzeitig vorbringen, welche die rechtlichen Voraussetzungen des eingeklagten Anspruchs bilden. Stützt der Kläger seinen Anspruch auf ausservertragliche Haftung des Beklagten, so ist zu prüfen, ob der Anspruch eventuell aus Vertrag begründet ist, wenn dies in seiner Darstellung des Sachverhalts ebenfalls enthalten ist. Eine Klage ist somit auch aus einem nicht geltend gemachten Rechtsgrunde zuzusprechen oder abzuweisen; vorausgesetzt ist aber, dass die Sachverhaltsgrundlage dafür vorgebracht wurde (Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur Zürcher ZPO, 3. A., N. 16 zu § 57; Leuch/Marbach/Kellerhals, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 4. A., N. 3b zu Art. 202).

b) Mit der Frage der richterlichen Rechtsanwendung ist die Frage verknüpft, ob durch die Geltendmachung eines neuen materiellen Anspruchs in demselben Prozess eine Klageänderung erfolgt oder nicht. In casu steht diese Frage im Vordergrund und nicht die Maxime der Rechtsanwendung von Amtes wegen. Stellt nämlich der neu vorgetragene Standpunkt der Klägerin eine Klageänderung im Sinne von § 56 ZPO dar, wäre sie im Berufungsverfahren auf jeden Fall – weil verspätet – nicht mehr zulässig und es könnte darüber im vorliegenden Prozess materiell nicht geurteilt werden (Frank/Sträuli/Messmer, a.a.O., N. 17 zu § 61; e contrario aus § 199 ZPO).

c) Eine Klageänderung liegt vor, wenn die Klage durch den neu geltend gemachten Anspruch ihre Identität verliert. Der Begriff der Klageänderung hängt also mit der Bestimmung der Anspruchsidentität zusammen. Zu unterscheiden ist zwischen individualisierten und nicht individualisierten Rechtsbegehren. Bei individualisierten Rechtsbegehren (z.B. Klage auf Herausgabe einer bestimmten Sache) wird die Klageidentität schon durch die Prozessparteien und das Rechtsbegehren bestimmt. Bei nicht individualisierten Rechtsbegehren (wie z.B. der vorliegenden Klage auf Bezahlung eines bestimmten Geldbetrages) muss zur Identität der Par-teien und des Rechtsbegehrens noch ein weiteres Kriterium hinzutreten. In der Lehre wird zwischen der materiell-rechtlichen Theorie, der Antragstheorie und der Theorie des Lebensvorgangs unterschieden (vgl. hiezu insbesondere: Isaak Meier, Iura novit curia, Zürcher Studien zum Verfahrensrecht, S. 27ff.; Oscar Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, 5. A., N. 9ff. zu Kapital 8, S. 204f.; Walder, Zivilprozessrecht, 4. A., N. 46ff. zu§ 26).

Bei der materiell-rechtlichen Theorie wird der Streitgegenstand mit dem materiell-rechtlichen Anspruch gleichgesetzt. Konkurrierende Ansprüche (aus Vertrag und unerlaubter Handlung oder aus Vertrag und ungerechtfertigter Bereicherung) stellen demnach verschiedene Streitgegenstände dar. Diese Theorie steht im Widerspruch zur Maxime der richterlichen Rechtsanwendung «iura novit curia» und scheint in der Schweiz bezüglich nicht individualisierter Rechte überwunden zu sein (siehe dazu etwa Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. A., S. 199/200). Allerdings entspricht die Praxis des Bundesgerichts dieser Theorie insofern, als es bei getrennter Einklagung konkurrierender Ansprüche die Klageidentität verneint (BGE 98 II 158). Nach dieser Theorie wäre im vorliegenden Fall die Identität des neu geltend gemachten Vertragsanspruches zum bisherigen Anspruch aus unerlaubter Handlung resp. ungerechtfertigter Bereicherung klar zu verneinen, was zur Folge hätte, dass die Klägerin für ihren angeblichen Vertragsanspruch auf einen neuen Prozess zu verweisen wäre. Bei der Antragstheorie wird der Streitgegenstand allein durch das Rechtsbegehren bestimmt. Bei Klagen auf Geldzahlung muss aber doch anhand der Begründung bestimmt werden, ob eine oder mehrere Leistungen Streitgegenstand sind oder ob von einem bestimmten Anspruch nur ein Teil geltend gemacht wird. Soweit überblickbar hat sich Walder (a.a.O., N. 63) dieser Theorie angeschlossen. Bei dieser Theorie besteht jedoch – worauf Vogel zu Recht hinweist – die Gefahr des Ausschlusses konkurrierender Ansprüche, für welche der Kläger die notwendigen Tatsachenbehauptungen nicht aufgestellt hat (a.a.O., N. 15).

Herrschend in der schweizerischen Lehre und Rechtsprechung ist die sogenannte Theorie des Lebensvorgangs: der Streitgegenstand wird durch das Rechtsbegehren in Verbindung mit dem behaupteten Lebensvorgang bestimmt. Dem Kläger liegt es nicht ob, im Prozess einen ganz bestimmten materiellen Anspruch zu bezeichnen, den er mit der Klage geltend macht, sondern er kann sich darauf beschränken, ein Rechtsbegehren zu stellen und die Tatsachen darzulegen, aus welchen er die Berechtigung seines Begehrens herleitet. Sache des Richters ist es dann, von Amtes wegen anhand aller in Betracht fallender Rechtsnormen zu prüfen, ob sich aus dem vorgetragenen Sachverhalt die Begründetheit des Rechtsbegehrens ergibt (Guldener, a.a.O., S. 200/201). Nach Guldener ist die Klage somit so zu begründen, dass sie genau den Lebensvorgang erkennen lässt, aus welchem der Kläger die Berechtigung des aufgestellten Rechtsbegehrens folgert. Die Identität wird so lange nicht verändert, als der Klagegrund derselbe ist, d.h. die Klage aus dem gleichen Lebensvorgang hergeleitet wird. Lebensvorgang ist in diesem Sinne als isolierter historischer Einzelvorgang zu verstehen und nicht als Lebenssachverhalt in seiner Gesamtheit (siehe zu dieser Unterscheidung bei Walder, a.a.O., N. 61 und 62, sowie Meier, a.a.O., S. 29/30).

Im Urteil vom 13. März 1981 hat sich das Kantonsgericht der Theorie des Lebensvorgangs im Sinne Guldeners angeschlossen (EGV 1981, Nr. 22). Ursprünglicher Klagegrund war in jenem Fall eine Werklohnforderung der Unternehmerin (Herstellung von Plankopien). Später machte sie einen völlig anderen Anspruch mit Hilfe der Zession des Architekten geltend. Sie klagte nicht mehr aus direktem Vertragsverhältnis zum Beklagten, sondern aus dem Vertrag zwischen dem Architekten und der Bauherr-schaft, weil sie sich vom Architekten den Anspruch auf Auslagenersatz hatte abtreten lassen. Die Zivilkammer befand, dass die Klägerin sowohl gestützt auf andere Rechtsnormen (Auftragsrecht statt Werkvertrag) als auch aus einem anderen Lebensvorgang (Abschluss eines Architekturvertrages, in dessen Rahmen der Architekt Aufwendungen tätigte, statt Abschluss eines Werkvertrages) geklagt habe, und eine Leistung verlangt habe, die rechtlich unabhängig von der anfänglich begehrten bestehen könne.

Auch wenn das Bundesgericht nicht einer eng umschriebenen Identi-tätstheorie folgt, erscheint dessen Praxis mit der Theorie des Lebensvorgangs vereinbar. Das Bundesgericht verneint Klageidentität nämlich, wenn Rechtsbehauptungen nicht auf dem gleichen Entstehungsgrund, das heisst auf denselben Tatsachen und rechtlichen Umständen beruhen (BGE 123 III 19 und 121 III 477f. mit weiteren Hinweisen).

d) Wie mehrfach erwähnt, klagte die Klägerin gegen den Beklagten auf Rückzahlung der bezogenen Fr. 60000.– aus unerlaubter Handlung, allenfalls ungerechtfertigter Bereicherung. Klagegrund für die Rückforderung war für die Klägerin der unerlaubte Bezug der Geldsumme durch den Beklagten (unerlaubte Handlung) bzw. die ohne Grund erfolgte Zuwendung an den Beklagten (ungerechtfertigte Bereicherung). Im Gegensatz dazu gibt sie in der Berufungsduplik als Klagegrund eine Vertragsverletzung des Beklagten an. Sie macht einen vertraglichen Schadenersatzanspruch im Sinne von Art. 97ff. OR geltend, weil der Beklagte durch das ermächtigungslose Auszahlen der Fr. 60000.– seine Pflichten als Organ der Gesellschaft verletzt und nicht dafür gesorgt habe, dass die Gesellschaft zu ihrem Geld kommt. Der ursprünglich geltend gemachte Lebensvorgang – der Beklagte habe unerlaubterweise einen Bezug getätigt – ist mit dem neu geltend gemachten – der Beklagte habe durch die erfolgte Zuwendung eine Pflichtverletzung begangen und damit der Klägerin einen Schaden zugefügt, der zu ersetzen sei – nicht identisch. Die Klägerin hat – um mit Walder, N. 73, zu sprechen – auf einen Anspruch hinübergewechselt, der auch unabhängig vom ursprünglich geltend gemachten bestehen könnte. Umgekehrt wäre ein ausservertraglicher Rückforderungsanspruch gegen den Beklagten gegeben, auch wenn – aus irgendwelchen Gründen – eine Schadenersatzpflicht aus Vertrags- oder Aktienrecht zu verneinen wäre. Das Ereignis des Bezugs einer unerlaubten bzw. grundlosen Leistung ist abzugrenzen vom Ereignis der möglichen Vertragsverletzung eines Gesellschaftsorgans, unermächtigterweise eine Geldausschüttung vorgenommen zu haben. Im vorliegenden Fall erscheint diese Unterscheidung auf den ersten Blick als nicht offenkundig. Dies liegt darin begründet, dass der Beklagte einerseits Empfänger der Geldleistung war und anderseits auch diejenige Person, die für die Klägerin die Geldauszahlung vornahm bzw. veranlasst hat. Der Beklagte als Organ der Gesellschaft aber könnte auch belangt werden, wenn er ermächtigungslos eine unberechtigte Geldleistung an einen Dritten veranlasst hätte (ob aus vertraglicher Haftung oder unter dem Titel der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit sei dahingestellt). Umgekehrt könnte vom Beklagten die Geldzahlung gestützt auf Art. 41 oder 62 OR verlangt werden, wenn ein anderes Organ der Gesellschaft die Auszahlung getätigt hätte. Dies aber zeigt klar auf, dass die Klagegründe nicht identisch sein können. Auf den neu geltend gemachten Klagegrund einer allfälligen Schadenersatzpflicht des Beklagten aus Vertrag ist deshalb nicht einzutreten. Eine Klageänderung kommt, wie aufgezeigt, im Stadium des Berufungsverfahrens nicht mehr in Betracht, womit auch nicht zu prüfen ist, ob die Klageänderung überhaupt noch zuzulassen wäre (Frage der Beeinträchtigung der Rechtsstellung des Beklagten sowie der ungebührlichen Verzögerung des Verfahrens; siehe § 56 Abs. 1 ZPO).

(Urteil vom 24.11.1998; KG 215/95 ZK).

 

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Zivilprozessrecht

– Klagehäufung.

Aus den Erwägungen:

Die Vorinstanz gelangte zur Auffassung, die vorliegende Klage sei zulässig, weshalb auf diese einzutreten sei.

Der Beklagte macht demgegenüber im vorliegenden Verfahren erneut geltend, die klägerischen Rechtsbegehren seien eine unzulässige Klagenhäufung, weshalb die Vorinstanz nicht hätte darauf eintreten dürfen. Die Klage sei auch eine unzulässige Kumulation objektiver und subjektiver Klagenhäufung, und zudem würde keine einheitliche Passivlegitimation vorliegen. Zur Begründung verweist der Beklagte vorwiegend auf seine vorinstanzlichen Ausführungen.

a) Gemäss § 54 ZPO kann der Kläger im gleichen Verfahren mehrere Rechtsbegehren gegen den Beklagten erheben, sofern für sie die Zuständigkeit des Gerichtes gegeben und die gleiche Verfahrensart vorgesehen ist. Diese Ansprüche können kumulativ nebeneinander oder im Eventualverhältnis geltend gemacht werden, aber nicht alternativ (Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl., N. 1 zu § 58 ZPO-ZH; Oscar Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, 5. Aufl., S. 190). Diese sogenannte objektive Klagenhäufung setzt folgende drei Bedingungen voraus: Die mehreren Ansprüche müssen vom gleichen Kläger gegen den gleichen Beklagten gerichtet sein, die örtliche und sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes muss gegeben sein, und die gleiche Verfahrensart ist erforderlich. Die Geltendmachung mehrerer Ansprüche durch mehrere Kläger gegen mehrere Beklagte ist unter der Voraussetzung von § 37 ZPO und der Bedingung, dass die mehreren Ansprüche von allen bzw. gegen alle Streitgenossen erhoben werden, zulässig (Frank/Sträuli/Messmer, a.a.O., N. 3ff. zu § 58 ZPO-ZH). Für den Fall, dass kein Wahlgerichtsstand zur Verfügung steht, ist zu prüfen, ob § 13 ZPO die nach § 54 ZPO vorausgesetzte Zuständigkeit des gleichen Gerichts schafft. Nach § 13 ZPO können nämlich mehrere Anträge gegen denselben Beklagten miteinander bei jedem Gericht eingeklagt werden, wenn sie in einem engen Zusammenhang stehen. Falls kein Wahlgerichtsstand vorliegt, ist dieser Gerichtsstand des Sachzusammenhanges nur gegeben, wenn verschiedene Ansprüche aus dem gleichen Rechtsverhältnis oder wegen des gleichen Gegenstandes erhoben werden (Frank/Sträuli/ Messmer, a.a.O., N. 1 zu § 13 ZPO-ZH mit weiteren Hinweisen).

Laut § 37 ZPO können mehrere Personen gemeinsam als Kläger auftreten oder als Beklagte belangt werden, wenn für die Ansprüche die Zuständigkeit des Gerichtes gegeben und die gleiche Verfahrensart vorgesehen ist. Überdies haben die Ansprüche sich im wesentlichen auf die gleichen Tatsachen und Rechtsgründe zu stützen. Diese sogenannte subjektive Klagenhäufung setzt somit voraus: gleiche Zuständigkeit, gleiche Verfahrensart sowie Ansprüche, die sich im wesentlichen auf die gleichen Tatsachen und Rechtsgründe stützen, womit aber kein enger Zusammenhang im Sinne von § 13 ZPO verlangt wird. Der bei der einfachen Streitgenossenschaft vorausgesetzte Zusammenhang solcher Klagen ist somit lockerer, so dass weder eine gemeinsame Klageerhebung noch eine gemeinsame Beurteilung in einem Verfahren unbedingt notwendig ist. Fasst der Kläger, ohne dazu gezwungen zu sein, für die gleiche Forderung mehr als eine Person ins Recht, so bleiben diese subjektiv gehäuften Klagen selbständig, weshalb grundsätzlich die Kostenentscheide für die einzelnen Klagen voneinander unabhängig zu gestalten sind (Frank/Sträuli/Messmer, a.a.O., N. 3 und 11 zu § 40 ZPO-ZH; Vogel, a.a.O., S. 141).

Die Sachlegitimation ist die Berechtigung des Klägers, das eingeklagte Recht oder Rechtsverhältnis geltend zu machen (Aktivlegitimation), und zwar gegen den ins Recht gefassten Beklagten, der bezüglich des strittigen Rechts in der Pflichtstellung steht und damit passivlegitimiert ist. Der Entscheid über die fehlende Sachlegitimation erfolgt durch Sachurteil und lautet auf «Abweisung» der Klage und nicht auf «Nichteintreten» (Vogel, a.a.O., S. 197).

b) Nicht bestritten und im vorliegenden Fall tatsächlich gegeben sind die örtliche und sachliche Zuständigkeit sowie die gleiche Verfahrensart für alle Ansprüche der Kläger. Da die von der Klägerschaft gestellten Anträge alle im Zusammenhang mit der Dienstbarkeit stehen, stellte die Vorinstanz ferner zu Recht einen engen Zusammenhang zwischen den klägerischen Anträgen fest. Es ist auch erstellt, dass die Kläger ihre Ansprüche, welche sich offensichtlich im wesentlichen auf die gleichen Tatsachen und Rechtsgründe stützen, gegen alle Beklagten erheben. Zusammenfassend steht somit fest, dass alle Voraussetzungen der objektiven und subjektiven Klagenhäufung gegeben sind. Nicht nachvollziehbar ist nun die Behauptung des Beklagten Ziff. 1, objektive und subjektive Klagenhäufung könnten nicht kumuliert werden. Bei der objektiven und subjektiven Klagenhäufung handelt es sich nämlich nicht um sich gegenseitig ausschliessende Prozessvoraussetzungen. Objektive und subjektive Klagenhäufung lassen sich durchaus kombinieren, was prozessökonomisch auch Sinn macht. Denn, wie die Kläger richtig erkennen, wäre nicht das Nichteintreten auf die Klage, sondern die Abspaltung in zwei separate Verfahren die Folge.

c) Zusammengefasst stösst die Rüge des Klägers, auf die Klage sei nicht einzutreten, ins Leere. Aufgrund obiger Ausführungen kann zudem von fehlender Passivlegitimation keine Rede sein.

(Urteil vom 20.1.1998; KG 359/96 ZK).

 

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Zivilprozessrecht

– Fristlose Entlassung; Nachschieben von Kündigungsgründen.

Aus den Erwägungen:

1. Im vorliegenden Verfahren ist strittig, ob die fristlose Kündigung gerechtfertigt war oder nicht. Primär ist abzuklären, ob und allenfalls wann das Nachschieben von wichtigen Gründen möglich ist.

a) Die Beklagte machte in der Duplik vor Erstinstanz neue Kündigungsgründe geltend. Sie legt diesbezüglich im vorliegenden Berufungsverfahren, gestützt auf das Novenrecht nach § 104 Ziff. 2 und 4 ZPO i.V.m. § 198 ZPO diverse schriftliche Bestätigungen von Mitarbeiterinnen der Bar ins Recht. Sinngemäss wird darin der Klägerin vorgeworfen, diese habe Geld aus der Kasse entwendet, Spirituosenflaschen sowie Red Bull-Büchsen gestohlen und diese Handlungen anderen Mitarbeiterinnen unterstellt. Sie habe andere Angestellte schikaniert und beschimpft sowie gegen sie intrigiert. Zudem sei die Klägerin faul, verweigere ihre Arbeit und sei nicht zur Teamarbeit fähig (Bestätigungen von ...). Die Beklagte begründet das Nachreichen dieser Bestätigungen damit, dass das Nachschieben von Kündigungsgründen jederzeit möglich sei. Sie macht in der Folge eine Verletzung von Art. 8 ZGB geltend, da der Vorderrichter nicht alle behaupteten Pflichtverletzungen gewürdigt habe. Insbesondere habe der Einzelrichter Art. 343 OR i.V.m. § 50 Abs. 3 ZPO verletzt, da er kein Beweisverfahren durchgeführt und bestimmte Ausführungen der Beklagten von vornherein als unwahr bezeichnet habe. Die Beklagte beantragt daher eventualiter die Rückweisung an die Vorinstanz zwecks Durchführung eines Beweisverfahrens, die Befragung der Zeugen sowie der Parteien, da der genaue Sachverhalt vom Gericht von Amtes wegen abzuklären sei.

b) Die Klägerin verneint die Beachtung der von der Gegenpartei neu angeführten Gründe. Die Gegenpartei sei erst auf die Idee gekommen, andere Kündigungsgründe anzuführen, als sie hätte feststellen müssen, dass die erste Begründung eine fristlose Kündigung nicht rechtfertigen würde. Nach BGE 121 III 467 sei das Nachschieben von Gründen nur bei Umständen möglich, welche die kündigende Partei im Zeitpunkt der Kündigung nicht gekannt habe oder nicht habe kennen können. Dies sei in casu nicht der Fall und sei auch nicht behauptet worden. Die Klägerin erachtet im weiteren auch Art. 343 OR als nicht verletzt, da die Offizialmaxime im Arbeitsprozess die Parteien nach Art. 343 Abs. 4 OR nicht von ihrer Mitwirkungspflicht bei der Feststellung von Tatsachen und der Beschaffung von Beweismitteln befreie.

c) Das Nachschieben von Kündigungsgründen, das dem Richter erlaubt, auch auf Umstände abzustellen, die bereits zur Zeit der fristlosen Entlassung hätten geltend gemacht werden können, welche aber erst während des Gerichtsverfahrens angeführt werden, ist in der Lehre sehr umstritten (z.B. bejahend: Rehbinder, Berner Kommentar, VI 2/2/2, 1992, N. 17 zu Art. 337 OR; verneinend: Brunner/Bühler/Waeber, Kommentar des Arbeitsvertrages, Bern 1990, N. 113 zu Art. 337 OR). Das Bundesgericht führt dazu in BGE 121 III 467 (= Pra. 1996 Nr. 207; sowie BGE 124 III 25, E. 3c) aus, dass es ausgeschlossen sei, wichtige Gründe geltend zu machen, die erst nach dem Anspruch der Vertragsauflösung vorgefallen seien. Es sei jedoch unter gewissen einschränkenden Bedingungen ausnahmsweise möglich, sich auf einen nicht angeführten Umstand zu berufen, wenn dieser bereits schon zum Zeitpunkt der fristlosen Entlassung existiert habe, die kündigende Partei diesen aber nicht kannte oder nicht habe kennen können.

Es bleibt demnach zu prüfen, ob die nachträglich angeführten Gründe bereits vor der fristlosen Kündigung bestanden haben, ob diese bereits bekannt waren oder die Beklagte diese hätte kennen können. Als weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit des Nachschiebens von Kündigungsgründen ist zudem zu beachten, dass die neuen Tatsachen den geltend gemachten Grund lediglich unterstützen, d.h. ergänzen, präzisieren oder in einem anderen Lichte erscheinen lassen dürfen (B. Brunner, Die ausserordentliche Kündigung des Arbeitsvertrages, 1979, S. 98). Die neu vorgebrachten Tatsachen müssen entweder in einem Zusammenhang zum bereits genannten Kündigungssachverhalt oder in Beziehung zur Gesamtentwicklung des Arbeitsverhältnisses stehen (B. Brunner, a.a.O., S. 98). Denn ein wichtiger Grund, der erst später bekannt wurde, der aber nicht im Zusammenhang mit einem bereits angeführten Grund steht, kann eine zuvor ohne wichtigen Grund ausgesprochene Entlassung nicht heilen (nicht publizierter BGE 26. Juni 1990, zitiert in BGE 121 III 467).

Stellt sich nach Prüfung all dieser Voraussetzungen heraus, dass die neu behaupteten Tatsachen nachträglich noch geltend gemacht werden können, so hat sie der Richter unter Berücksichtigung der Regeln des guten Glaubens in seine Würdigung miteinzubeziehen.

d) Art. 343 Abs. 4 OR statuiert für den arbeitsrechtlichen Zivilprozess die Dispositions- und Untersuchungsmaxime. Die Untersuchungsmaxime hat sozialstaatlichen Charakter und bewirkt bei einer eingeklagten Forderung von bis zu Fr. 20000.– eine ausgedehntere richterliche Fragepflicht, wenn der Richter Grund hat, an der Vollständigkeit des Sachverhaltsvortrags und der Beweisanträge der Parteien zu zweifeln. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verpflichtet sie nicht sämtliche kantonalen Instanzen zu einer inquisitorischen Ermittlung des Sachverhalts (BGE 107 II 236, E. c = Pra. 1981, Nr. 67; JAR 1994, S. 310; Staehelin, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, V/2c, Art. 343, N. 22). Für das Rechtsmittelverfahren hat sie nicht zur Folge, dass jede vom kantonalen Recht festgesetzte Beschränkung des Untersuchungsgrundsatzes unbeachtlich wird. Die Kantone sind insbesondere frei, die Kognition der zweiten Instanz beispielsweise durch ein Novenverbot zu beschränken (vgl. ZR 96/1997, Nr. 67, S. 163 mit weiteren Hinweisen).

Die Pflicht des Richters, den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen, entbindet die Parteien nicht von ihrer Mitwirkungspflicht bei der Feststellung der Tatsachen und der Beschaffung von Beweismitteln. Der Untersuchungsgrundsatz reicht im Gebiet des Arbeitsrechts nicht weiter als in jenen Rechtsbereichen, die der freien Verfügung der Parteien entzogen sind (ZR 96/1997 Nr. 67 S. 163).

Im übrigen ist zu beachten, dass die Untersuchungsmaxime grundsätzlich nur bei Arbeitsstreitigkeiten bis zu einem Streitwert von Fr. 20000.– gilt (Rehbinder, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht I, N. 1 zu Art. 343 OR; Staehelin, a.a.O., N. 22 zu Art. 343).

e) Die von der Beklagten nachträglich geltend gemachten Tatsachen haben sich unbestrittenermassen vor Ausspruch der fristlosen Kündigung zugetragen. Im weiteren erscheint es als offensichtlich, dass diese Tatsachen der Beklagten bereits vor der Kündigung bekannt waren. So will H. im Zusammenhang mit dem Verdacht, die Klägerin habe Mitte April Geld aus der Kasse genommen oder Spirituosen aus dem Lager entwendet, geprüft haben, wer einen Schlüssel und damit Zugang zur Kasse hatte. Zudem hätte in dieser Hinsicht eine Anzeige gemacht werden können, und die angeblich am 29. Mai 1996 angebrachte Mahnung hätte bereits im April 1996 erfolgen können. Die übrigen behaupteten Vorwürfe an die Klägerin, wie Beschimpfung und Schikane der Mitarbeiterinnen sowie das Fehlen der Red Bull-Büchsen, muss der Beklagten sicher ebenfalls bekannt gewesen sein. So will H. nach den Ausführungen der Beklagten auch zugegen gewesen sein, als das Fehlen der Red Bull-Büchsen bemerkt worden sei. Zudem behauptet die Beklagte ja auch, alle diese Verfehlungen seien von ihr mündlich abgemahnt worden. Hierfür fehlt im übrigen jedoch jeglicher Beweis. Die Anrufung der genannten Vorwürfe wäre somit bereits früher, nämlich bei der Aussprechung der Kündigung, möglich gewesen.

Zu bemerken bleibt, dass die bereits im erstinstanzlichen Verfahren angerufenen Zeugen nicht hinreichend offeriert wurden, insbesondere nicht ausführlich dargelegt wurde, wie diese die fristlose Kündigung rechtfertigen sollen. Überdies gilt für das Berufungsverfahren nur ein beschränktes Novenrecht (§ 198 ZPO i.V.m. § 104 ZPO). Schliesslich können auch die vor Zweitinstanz ins Recht gelegten Bestätigungen der einzelnen Arbeitnehmerinnen die vorgebrachten Behauptungen nicht rechtsgenüglich belegen. Es sind lediglich schriftlich dargelegte Vermutungen von Mitarbeitern zur Person der Klägerin.

Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass die Voraussetzungen für ein gerechtfertigtes Nachschieben von Kündigungsgründen nicht gegeben sind. Die Prüfung der weiteren Voraussetzungen, wie z.B. ob die nachträglich geltend gemachten Gründe mit dem angeführten Grund im Zusammenhang stehen, kann somit entfallen. Die nachträglich angebrachten Gründe dürfen folglich bei der Beurteilung der Frage, ob die fristlose Kündigung gerechtfertigt war, nicht beigezogen werden.

f) Gestützt auf die vorangegangenen Ausführungen ist somit auch eine Verletzung von Art. 8 ZGB oder Art. 343 OR i.V.m. § 50 Abs. 3 ZPO zu verneinen, insbesondere da der Streitwert deutlich über dem in Art. 343 Abs. 1 OR bestimmten Grenzwert von Fr. 20000.– liegt. Aber selbst wenn die Untersuchungsmaxime hier gelten würde, musste der Einzelrichter in casu keine objektiven Zweifel an der Vollständigkeit der Behauptungen und Beweisofferten haben, zumal den Parteien auch in einem arbeitsrechtlichen Verfahren nach Art. 343 OR eine Mitwirkungspflicht bei der Feststellung von Tatsachen und der Beschaffung von Beweismitteln obliegt. Dieser Pflicht ist die Beklagte offensichtlich nicht hinreichend nachgekommen. Eine nachträgliche Beweisabnahme musste also offensichtlich nicht in Frage kommen.

(Urteil vom 3.3.1998; KG 349/97 ZK).

 

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Zivilprozessrecht

– Erforderlicher Umfang der Urteilsbegründung; Besetzung des Gerichtes; öffentliche Verhandlung und Urteilsverkündung.

Aus den Erwägungen:

In formeller Hinsicht erhebt der Kläger zum einen die Rüge der ungehörigen Gerichtsbesetzung im erstinstanzlichen Verfahren. Zum andern macht er geltend, dass keine mündliche, öffentliche Verhandlung des Prozesses in der neuen Besetzung stattgefunden habe, ebensowenig wie eine öffentliche Urteilsverkündung. Zum dritten rügt er eine fehlende Urteilsbegründung zur Frage der vorgängigen Freistellung.

a) Die nicht gesetzesmässige Gerichtsbesetzung erblickt der Kläger im Umstand, dass das gesamte Verfahren vom Gerichtspräsidenten persönlich geleitet worden, das Urteil in der Folge aber vom in der Zwischenzeit zum Richter gewählten Gerichtsschreiber gefällt worden sei. Der Richter, der das Urteil fälle, müsse auch am Verfahren beteiligt sein und eine grundlose Auswechslung der Gerichtspersonen sei unstatthaft. Ein sachlicher Grund für das Vorgehen sei auch deshalb nicht ersichtlich, da gegen den Gerichtspräsidenten keine Ausstandsgründe bestanden hätten. Sodann wird geltend gemacht, dass der a.o. Gerichtsschreiber am gesamten Verfahren überhaupt nicht beteiligt gewesen sei, und replicando wird klägerischerseits die Frage aufgeworfen, ob der als Ersatzrichter gewählte Bezirksrichter Z. überhaupt als (ordentlicher) Einzelrichter amten dürfe. Eine Verletzung kantonaler Prozessvorschriften macht der Kläger nicht geltend, er beruft sich jedoch auf die Garantie des verfassungsmässigen Richters nach Art. 58 Abs. 1 BV sowie auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

Eine Verletzung der angerufenen Garantien ist in concreto nicht zu sehen. Der urteilende Einzelrichter Z. war vor seiner Richterwahl als Gerichtsschreiber am Verfahren beteiligt. Insbesondere war er an den Zeugeneinvernahmen anwesend und erhielt damit einen persönlichen Eindruck von den Zeugen und deren Aussageverhalten. Es war demnach durchaus sachlich gerechtfertigt, ihm den Fall nach seiner Einsetzung als urteilenden Richter zu übertragen. Diese Konstellation ist entgegen dem klägerischen Standpunkt absolut nicht vergleichbar mit dem Fall, dass sich ein in die Zweitinstanz beförderter Richter nochmals an demselben Verfahren beteiligt. In einem solchen Fall wäre der beförderte Richter von Gesetzes wegen von der Beurteilung ausgeschlossen (§ 52 Abs. 1 lit. d GO). Hier aber hat die mitwirkende Justizperson im erstinstanzlichen Verfahren nur ihre Funktion gewechselt, was weder einen Ausschluss- noch einen Ablehnungsgrund darstellt. Auch wurde damit dem Anspruch der Parteien, dass kein Richter urteilen soll, der nicht Kenntnis von ihren Vorbringen und vom Beweisverfahren hat (BGE 117 Ia 134), Genüge getan.

Ist die vorinstanzliche Gerichtsbesetzung nicht zu beanstanden, entfällt auch die am Rande geübte Kritik betreffend die Mitwirkung eines a.o. Gerichtsschreibers. Nachdem Z. als Bezirksrichter gewählt war, konnte er zwingend nicht mehr als Gerichtsschreiber amten, so dass die Mitwirkung eines neuen Gerichtsschreibers notwendig war. ...

Schliesslich besteht auch kein Anlass zu einer formellen Kassation des Urteils, weil der urteilende Einzelrichter nicht als ordentlicher Bezirksrichter, sondern «nur» als Ersatzrichter gewählt ist. Das Bezirksgericht besteht aus einem Präsidenten, sechs Richtern und sieben Ersatzrichtern (§ 85 KV; § 16 Abs. 2 GO). Gemäss § 17 GO wählt das Bezirksgericht u.a. die Einzelrichter aus seiner Mitte. Von Gesetzes wegen amtet der Gerichtspräsident als Einzelrichter; weitere Einzelrichter können vom Bezirksgericht «aus seiner Mitte» ernannt werden (§ 8 Abs. 2 GO). Die schwyzerische Gerichtsordnung ermöglicht damit klar auch die Einsetzung von Ersatzrichtern als Einzelrichter.

b) Der Kläger rügt die fehlende öffentliche Verhandlung und Urteilsverkündung vor Erstinstanz und macht einen Verstoss gegen Art.6 Ziff.1 EMRK geltend. Das vorinstanzliche Verfahren mit zwei Schriftenwechseln ohne Referentenaudienz und mündlicher Verhandlung entspricht zum einen den kantonalen Verfahrensbestimmungen (§ 109 Abs. 2 und § 110 Abs. 2 ZPO). Ebensowenig ist aber auch eine Verletzung von Art.6 Ziff. 1 EMRK gegeben. Der Kläger unterliess es vor Erstinstanz, ausdrücklich eine mündliche Hauptverhandlung zu verlangen, nachdem er mit Verfügung vom ... zur schriftlichen Eingabe der Replik aufgefordert worden war. Dem klägerischen Rechtsvertreter musste bekannt sein, dass die Zivilprozessordnung ein rein schriftliches Verfahren zulässt und in der Praxis häufig keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird. Gegen die einzelrichterliche Anordnung hätte er spätestens in diesem Zeitpunkt remonstrieren und eine mündliche Hauptverhandlung verlangen müssen. Allein der pauschale Hinweis am Schluss der Klageschrift, es seien im Verfahren die Garantien der EMRK, insbesondere Art. 6 Ziff. 1 vollumfänglich zu wahren, ändert daran nichts. Aus der fehlenden Reaktion auf die Anordnung des weiteren schriftlichen Verfahrens konnte der verfahrensleitende Richter schliessen, dass die klägerische Partei stillschweigend auf eine mündliche Verhandlung verzichtet, was nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe zulässig ist (KG 103/94 ZK, Urteil vom 12.11.1996 in Sachen Z. gegen B.; Villiger, Handbuch der europäischen Menschenrechtskonvention, 1993, Rz. 438; siehe auch BGE 122 V 55, 119 Ib 330f.). Abgesehen davon ist dem Gebot der Öffentlichkeit schon deshalb Genüge getan, da nun im Berufungsverfahren vor Kantonsgericht eine öffentliche Verhandlung durchgeführt wurde. Nach der Praxis der Strassburger Organe nämlich genügt auch die öffentliche Verhandlung vor der Rechtsmittelinstanz, wenn diese – wie in casu – mit umfassender Kognition ausgestattet ist (Villiger, a.a.O., Rz. 439).

Nicht stichhaltig ist auch der Einwand der fehlenden öffentlichen Urteils-verkündung. Weder vor Erstinstanz noch vor Kantonsgericht hat der Kläger eine öffentliche Urteilsverkündung verlangt, womit in bezug auf diesen Anspruch zum vornherein Verwirkung anzunehmen ist. Mangels öffentlicher Verhandlung konnte vor Erstinstanz ohnehin keine öffentliche Verkündung erfolgen. Im übrigen setzte eine öffentliche Verkündung nicht unbedingt eine mündliche Bekanntgabe des Urteilsdispositivs voraus. Ausreichend ist, wenn das Urteil lediglich den Beteiligten zugestellt wird und der Öffentlichkeit durch Einsicht bei der Gerichtskanzlei zugänglich gemacht wird (Villiger, a.a.O., Rz. 443; Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, N. 79 zu Art. 6 EMRK). Der Kläger bringt nicht vor, dass zu Handen der Öffentlichkeit das Urteilsdispositiv vor Erstinstanz oder vor Kantonsgericht hätte aufgelegt werden müssen.

c) Das Urteil hat als Begründung u.a. «die Entscheidungsgründe unter Hinweis auf das angewendete Recht» zu enthalten (§ 132 lit. b Ziff. 3 GO). Die Pflicht zur Begründung richterlicher Entscheide ist Konsequenz der aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgenden Pflicht zu ernsthafter Prüfung der Parteivorbringen und ergibt sich unmittelbar aus Art. 4 BV. Der Richter kann sich jedoch auf die wesentlichen Punkte beschränken. Es müssen kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich der Richter leiten liess und auf welche sich sein Entscheid stützt. Die Begründung muss es den Parteien erlauben, die Tragweite des Entscheides zu erfassen und sachgerecht anzufechten (Leuch/Marbach/Kellerhals, Die Zivilprozessordnung für den Kt. Bern, N. 1 zu Art. 204 mit Hinweisen; BGE 112 Ia 109, E. b).

Im angefochtenen Urteil sind die Gründe, weshalb die Beklagte zur Aussprechung der fristlosen Kündigung berechtigt war, unter Würdigung des Beweisergebnisses und unter Hinweis auf das angewendete Recht ausführlich dargestellt. Die Überlegungen, von denen sich der Einzelrichter zur Klageabweisung leiten liess, sind aus dem Entscheid ersichtlich. Wenn sich der Einzelrichter zur Frage der vorgängigen Freistellung des Klägers nicht weiter äusserte, so ist daraus nur zu schliessen, dass er diesen Einwand für unbeachtlich hielt. Damit genügte er seiner Begründungspflicht. Nicht erforderlich ist nämlich, dass sich der Richter ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen muss. Er kann sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 112 Ia 110).

Im übrigen kann nach konstanter Praxis des Kantonsgerichtes ein vor-instanzlicher Begründungsmangel im Appellationsverfahren geheilt werden. Dem Kläger erwächst aus dem behaupteten Formmangel kein Nachteil, weil das Kantonsgericht über seinen Anspruch mit voller Kognition urteilen kann (siehe auch BGE 107 Ia 1ff.). In den materiellen Entscheidgründen ist deshalb auf das Verhältnis zwischen der vorgängigen Freistellung des Klägers und der nachträglich erfolgten fristlosen Entlassung einzutreten.

(Urteil vom 10.3.1998; KG 409/96 ZK).

 

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Zivilprozessrecht

– Klageidentität; Klageänderung.

Aus den Erwägungen:

Die Klage lautete im Hauptantrag auf Beseitigung einer Pinie, eines Nadelbaums und eines Obstbaums auf GB 890. In ihren geänderten Rechtsbegehren gemäss Replikschrift verlangte die Klägerin zusätzlich die Beseitigung von fünf Jungtannen und vier Föhren auf GB 890 sowie von fünf Föhren auf GB 889. Die Vorinstanz hat die Zulässigkeit der mit Replikschrift erfolgten Klageänderung verneint. Zur Begründung führte sie im wesentlichen an, dass sich die neuen Rechtsbegehren zusätzlich auf die Liegenschaft GB 889 beziehen würden, welches Grundstück weder im Rahmen des Vermittlungsvorstandes noch im Rahmen des ersten Schriftenwechsels involviert gewesen sei. Dazu komme, dass beweismässig davon auszugehen sei, dass die neu beanstandeten Pflanzen bereits bei Einleitung des Klageverfahrens vorbestanden hätten.

a) Im Gegensatz zur Auffassung der Kläger wurde durch die neuen Begehren die Identität der Klage verändert. Vorliegend nämlich stehen individualisierte Rechte im Streit, geht es doch um die Beseitigung von bestimmten Pflanzungen auf mehreren Grundstücken der Beklagten. Bei individualisierten Rechten aber wird die Identität schon durch die Prozessparteien und das Rechtsbegehren bestimmt. Nur bei nicht individualisierten Begehren – wie insbesondere Klage auf Bezahlung eines bestimmten Geldbetrages – setzt Identität zusätzlich voraus, dass die Klage aus dem gleichen Lebensvorgang hergeleitet wird (nach der vorherrschenden Theorie des Lebensvorgangs, siehe EGV 1981, Nr. 22 unter Hinweis auf Guldener; siehe auch Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, N. 13 zu § 61; Walder, Zivilprozessrecht, 4. A., N. 46ff. zu § 26; und Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, 5. A., N. 9ff. zu Kap. 8).

b) Liegt somit keine Klageidentität zwischen den Klagebegehren einerseits und den Replikbegehren anderseits vor, stellt sich die Frage der Zulässigkeit einer Klageänderung. Gemäss § 56 Abs. 1 ZPO kann der Kläger in einem rechtshängigen Prozess im Rahmen der Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes einen andern oder weitern Anspruch erheben, sofern dieser mit dem bisher geltend gemachten in engem Zusammenhang steht. Das Gericht kann die Zulassung der Klageänderung ablehnen, wenn durch sie die Rechtstellung des Beklagten wesentlich beeinträchtigt oder das Verfahren ungebührlich verzögert wird.

c) Die vorliegende Klageänderung erfolgte im Rahmen der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts. Das erweiterte Rechtsbegehren stützt sich zudem auf diesselbe, die beklagtischen Grundstücke belastende Dienstbarkeit ab. Das Beseitigungsbegehren bezüglich weiterer Bäume auf dem Grundstück GB 890 wie zusätzlich auch auf dem Grundstück GB 889 steht somit in engem Zusammenhang zu den ursprünglichen Klagebegehren. Die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Klageänderung sind gegeben. Auch unter dem Aspekt der Prozessökonmie steht der Zulassung nichts im Weg. Über den erweiterten Anspruch kann im gleichen Verfahren geurteilt werden, womit die Durchführung einer zweiten Klage vermieden wird (Frank/Sträuli/Messmer, a.a.O., N. 1 zu § 61). Ebenso erfolgte die Klageänderung rechtzeitig noch während des Hauptverfahrens, und der Beklagte konnte duplikando zu den neuen Rechtsbegehren Stellung nehmen. Von einer Beeinträchtigung der Rechtstellung des Beklagten kann demnach ebensowenig die Rede sein wie davon, dass das Verfahren dadurch ungebührlich verzögert worden wäre. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist sodann nicht von Relevanz, ob die neu beanstandeten Pflanzen bei Einleitung des Prozesses bereits angepflanzt waren. Denn die Klageänderung soll nicht nur möglich sein, wenn sich während des Verfahrens neue Tatsachen ereignet haben, sondern auch, damit der Kläger eine während des Verfahrens gewonnene bessere Einsicht in das Streitverhältnis auswerten kann (Frank/Sträuli/Messmer, a.a.O., N. 1 zu § 61). Die Klageänderung ist demnach zuzulassen, und es ist auch über die mit der Replikeingabe erweiterten Klagebegehren zu entscheiden.

(Urteil vom 24.11.1998; KG 262/96 ZK).

 

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Strafrecht

– Begriff «grosse Menge» nach Art. 244 StGB.

Aus den Erwägungen:

Die Vorinstanz hat den qualifizierten Tatbestand von Art. 244 Abs. 2 StGB als erfüllt angesehen, wonach wer Falschgeld in grosser Menge einführt, erwirbt oder lagert, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft wird. Falsifikate im Wert von 200000 $ seien – so die Auffassung der Vorinstanz – als grosse Menge zu qualifizieren, da dieser Betrag am täglichen Lebensbedarf bemessen doch eine erhebliche Kaufkraft beinhalte und dem Vorhaben des Angeklagten aufgrund seiner prekären Finanzsituation ein gewerbsmässiges Element beigemessen werden müsse.

a) Die Schwere der Strafandrohung des qualifizierten Tatbestandes von Art. 244 Abs. 2 StGB zeigt, dass nur ausgesprochen schwere Fälle unter diese Bestimmung fallen können. Von einer grossen Menge kann jedenfalls nicht schon allgemein dann gesprochen werden, wenn eine Mehrheit von einzelnen Falsifikaten erworben oder gelagert werden. Besonders gefährlich wird das Delikt erst dann, wenn die Menge der Falsifikate ein Ausmass erreicht, dass durch deren In-Umlaufsetzen eine ernstliche Störung des Geldmarktes und die Schädigung einer grösseren Zahl von Leuten zu erwarten ist. Wesentlich ist also das Vorliegen einer grossen Zahl von Falsifikaten, und dass diese in ihrer Gesamtheit einen erheblichen Wert vortäuschen (vgl. RS 1949, Nr. 238, aber auch SJZ 1965, Nr. 86). Eine ernstliche Störung des Geldmarktes kommt vorliegend bei einer Summe von 200000 $ nicht in Betracht.

b) Die Bestimmung will aber nicht nur ausschliesslich eine Gefährdung von Währung und Wirtschaft sanktionieren – wenn diese gesetzgeberische Absicht allenfalls auch in den Kriegszeiten im Vordergrund gestanden haben mag – sondern hat auch die Beeinträchtigung des gewöhnlichen Geldverkehrs, wie er sich zwischen Privaten und in Handelskreisen ergibt, im Visier, es soll grossen Gefahren für das gutgläubige Publikum (SJZ 1965, Nr. 86) bzw. der Schädigung vieler Leute (Trechsel, a.a.O., Art.244, Rz.4) begegnet werden. Dem Richter bleibt angesichts des recht unbestimmten Qualifikationsmerkmales der grossen Menge ein weiter Ermessensbereich (Rehberg, a.a.O., S. 100).

c) Nicht ausschlaggebend kann sein, ob wertmässig die Gesamtsumme der erworbenen Falsifikate für eine Person subjektiv einen grossen Wert darstellt oder nicht. Vielmehr muss aufgrund der oben dargestellten, relativ alten Praxis die fragliche Falschgeldmenge für das Publikum ein erhebliches Gefährdungspotential darstellen. Ist zudem zu beachten, dass aufgrund der hohen Strafandrohung des qualifizierten Tatbestandes des Erwerbens von Falschgeld bei der Annahme einer grossen Menge Zurückhaltung geboten ist, die sich auch deshalb aufdrängt, weil Art. 244 Abs. 2 StGB eine höhere Strafe androht als der konkrete Angriff auf den Geldverkehr gemäss Art.242 StGB (vgl. Stratenwerth, a.a.O., §33, Rz.39), gelangt das Kantonsgericht zur Überzeugung, dass 2000 falsche 100- Dollar-Noten im Gesamtwert von 200000 $ zwar ziemlich viel, aber keine grosse Menge im Sinne des Gesetzes ist. Auch wenn die maximal mögliche Gefährdung eines Personenkreises von 2000 Leuten nicht unerheblich erscheint, ist der dabei beim einzelnen eintretende Schaden von 100 $ heutzutage objektiv nicht als gross zu bezeichnen. Dürfen bei Vermögensdelikten Schäden von unter Fr. 300.– als geringfügig betrachtet werden (Art. 172ter StGB und einschlägige Praxis hierzu), so könnte der Schaden einer Person, welche unbeabsichtigt mehrere gefälschte 100-DollarNoten entgegennehmen würde, noch nicht als gross bezeichnet werden. Diese opferspezifische Sichtweise eignet sich aber bei Geldfälschungs-delikten, die auf die Sicherheit des Geldverkehrs und nicht wie die Vermögensdelikte primär auf einzelne Vermögensgegenstände einzelner Personen ausgerichtet sind, nicht und mithin auch nicht für die Bestimmung der grossen Menge nach Art. 244 Abs. 2 StGB. Deshalb kann die grosse Menge entgegen der Ansicht der Vorinstanz auch nicht am täglichen Lebensbedarf einer Person bemessen werden. Vielmehr müssen hier andere Dimensionen zugrunde gelegt werden, was sich auch deshalb rechtfertigen lässt, weil Art. 244 StGB blosse Vorbereitungshandlungen zum In-Umlaufsetzen von Falschgeld (Art. 242 StGB), wodurch unbeteiligte Personen effektiv erst konkret getäuscht und um ihnen zustehendes echtes Geld geprellt werden, sanktioniert. Aus einer solchen Warte kann eine Falschgeldmenge von 2000 Hundertdollarnoten objektiv nicht als gross bezeichnet werden, da damit keine nennenswerte Beeinträchtigung des Geldverkehrs unter Privaten und auch nicht die Schädigung einer abnormal grossen Zahl von Personen bewirkt werden kann. Gewiss ist die potentielle Gefährdung von 2000 Personen nicht zu bagatellisieren. Berücksichtigt man aber abgesehen von den bisherigen Erwägungen auch, dass sich ein ‹erfolgreicher› Geldfälscher nicht mit der Fälschung einiger Hundertausend Dollars begnügen wird, sondern wie im vorliegenden Fall gesamthaft Millionen von Dollars Falschgeld herzustellen und abzusetzen trachten wird, die Staatsanwaltschaft spricht von zehn Millionen Dollars, so können im Vergleich dazu 200000 $ nicht als eine grosse, vom Normalfall von Art. 244 Abs. 1 StGB abweichende Menge bezeichnet werden. Dies zeigt sich u.a. auch im Zusammenhang mit der Tatsache, dass X. mit einem Komplizen Hundertdollarnoten des Fälschungstyps Z. im Wert von ca. 1,2 Mio. Dollar in die USA brachte, wobei quasi als Muster für die Güte der Blüten einem Mittelsmann in den USA ohne weiteres Falsifikate im Wert von 10000 bis 50000 $ übergeben wurden.

d) Soweit die Vorinstanz angesichts der prekären Finanzsituation (Fr. 70000.– Schulden) dem Vorhaben des Angeklagten ein gewerbsmässiges Element unterstellt, indem sie davon ausgeht, dass er durch Absetzen von Falschgeld Einkünfte zu erlangen sucht, vermag dies die Anwendung des qualifizierten Tatbestandes nicht zu rechtfertigen. Die Gewerbsmässigkeit, die darin liegen müsste, dass der Angeklagte unter beträchtlichem Zeitaufwand innerhalb eines bestimmten Zeitraumes mehrmals Falschgeld erwirbt, einführt oder lagert, um es als echt in Umlauf zu bringen und dadurch einen namhaften Beitrag an die Finanzierung seines Lebensunterhaltes zu erzielen, ist nicht nachgewiesen. Die Gewerbsmässigkeit kann bei dem nach Art. 244 StGB als Vorbereitungshandlung sanktionierten Erwerben von Falschgeld auch nicht darin liegen, dass die Absicht des Täters besteht, die einzelnen Falsifikate später durch mehrere Handlungen in Umlauf zu setzen.

e) Aus diesen Gründen sind 200000 $ keine grosse Menge im Sinne von Art. 244 Abs. 2 StGB, und es erübrigt sich, auf die von der Verteidigung vorgebrachten Behauptung weiter einzugehen, dass sich die an den Angeklagten übergebene Falschgeldmenge im Bereich von 100000 $, was beim dazumaligen Kurswert von Fr. 1.30 pro Dollar Fr. 130000.– entsprechen würde, bewegt hätte.

(Urteil vom 28.7.1998; KG 183/96 SK).

 

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Strafprozessrecht

– Revision eines nicht begründeten Urteils.

Aus den Erwägungen:

2. a) Nach § 157 StPO kann ein rechtskräftig erledigtes Strafverfahren jederzeit wieder aufgenommen werden, wenn gemäss dem im vorliegenden Fall angerufenen Buchstaben a) der Bestimmung Tatsachen oder Beweise vorliegen, die der entscheidenden Behörde zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren und die allein oder in Verbindung mit einer früher festgestellten Tatsache geeignet sind, einen Freispruch, eine mildere Beurteilung oder eine Verurteilung herbeizuführen. Diese Bestimmung des kantonalen Strafprozessrechts deckt sich, soweit eine Revision zugunsten des Verurteilten gestattet wird, mit dem in Art. 397 StGB statuierten bundesrechtlichen Revisionsgrund.

Das Revisionsgesuch ist beim Kantonsgericht einzureichen. Die Revisionsgründe und die Beweismittel sind anzugeben (§ 157d Abs. 1 StPO).

b) Tatsachen sind alle Umstände, die im Rahmen des dem Urteil zugrunde gelegten Sachverhaltes von Bedeutung und geeignet sind, ihn in einem anderen, für den Verurteilten günstigeren Lichte erscheinen zu lassen. Beweise bzw. Beweismittel erbringen den Nachweis von Tatsachen und sind diesen deshalb für die Möglichkeit einer Revision gleichgestellt (Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, Basel 1997, § 102, Rz. 17f.).

c) Neu sind Tatsachen oder Beweismittel, wenn sie dem seinerzeit erkennenden Gericht nicht bekannt waren. Dabei kann eine bereits geltend gemachte Tatsache durch ein neues Beweismittel erhärtet werden, oder die Behauptung einer neuen Tatsache sich auf ein schon im früheren Strafverfahren benutztes Beweismittel abstützen. Es genügt aber auch schon, wenn bereits im Urteilszeitpunkt vorhandene Tatsachen oder Beweismittel in der nun vorliegenden Bedeutung vom Richter nicht berücksichtigt wurden. Eine Wiederaufnahme ist deshalb etwa möglich, wenn ein bereits früher vorhandenes Beweismittel in wesentlichen Punkten nicht ausgeschöpft wurde, so, wenn einem Zeugen wesentliche Fragen nicht gestellt wurden oder eine Tatsache zwar aktenkundig, aber vom Richter offensichtlich übersehen wurde (Schmid, Strafprozessrecht, Zürich 1997, Rz. 1152). Das Nichterwähnen eines bestimmten Dokumentes im Urteil genügt jedoch nicht zur Annahme, dass das Beweismittel dem Richter nicht bekannt und mithin neu war. Im Gegenteil wird vermutet, dass das Gericht alle im Dossier enthaltenen Dokumente kannte. Die Behauptung, der Richter habe ein Beweismittel übersehen, darf nicht dazu missbraucht werden, die Würdigung des Beweismittels anzufechten und die Revision zu einer versteckten Appellation werden zu lassen. Es muss vielmehr nachgewiesen werden, dass nach der ganzen Aktenlage keine andere Erklärung übrig bleibe als die, dass der Richter das Beweismittel nicht kannte (Schultz in ZBJV 1997, S. 409f. zu BGE 122 IV 66). Inhaltliche Grundlage für die Beurteilung des Erfordernisses der Neuheit von Tatsachen und/oder Beweismittel bilden das Protokoll der Gerichtsverhandlung, die Akten sowie die Urteilsbegründung. Nachträglich eingetretene Entwicklungen sind keine revisionsrechtlichen Nova, weil es nicht Aufgabe der Wiederaufnahme ist, eine rechtskräftige Entscheidung einem seither veränderten Sachverhalt anzupassen (zum Ganzen vgl. auch Hauser/Schweri, a.a.O., § 102, Rz. 20ff. mit Hinweisen).

d) Neue Tatsachen und Beweismittel müssen allein oder zusammen mit früheren Beweisen geeignet sein, eine Änderung des rechtskräftigen Urteils zu bewirken (§ 157 lit. a StPO), d.h., sie müssen nicht nur neu, sondern auch erheblich sein (Hauser/Schweri, a.a.O., § 102, Rz. 24). Denkbar ist, dass nicht eine Tatsache bzw. ein Beweismittel allein vorgebracht wird, sondern eine Mehrheit; diese sind alsdann einer Gesamtwürdigung zu unterziehen, wobei zu prüfen ist, ob sie in ihrer Gesamtheit erheblich sind (Donatsch/Schmid, Kommentar zur StPO-ZH, Zürich 1996, § 449, Rz. 10).

3. a) Zu Recht hat sowohl der Verteidiger als auch der Staatsanwalt auf die besondere Schwierigkeit des vorliegenden Falles hingewiesen: infolge des Begründungsverzichts der Parteien ist die Zulassung der Revision eines rechtskräftigen, aber nicht begründeten Urteils zu beurteilen. Mangels Motivierung dieses Urteils ist nicht nachvollziehbar, auf welche Fakten das Strafgericht seinen Schuldspruch abstützte, was es bei der für die nachfolgende Beurteilung wesentlichen Unterscheidung (dazu näher vgl. gerade nachfolgend lit. b), ob das Strafgericht Fakten nicht beachtet oder anders gewürdigt hat, als es der Gesuchsteller für richtig hält, zu beachten gilt. Der Umstand, dass der Begründungsverzicht, mit welchem das heute zur Diskussion stehende Urteil in Rechtskraft getreten ist, dem heutigen Verteidiger erstaunlich erscheint, kann dahingestellt bleiben. Die Möglichkeit des Verzichts auf die Begründung des vorliegend sowohl mündlich eröffneten, als auch im Dispositiv mitgeteilten Urteils stützt sich auf kantonales Verfahrensrecht (§ 135 GO). Die heute vorgetragene Vermutung, bei der Unterzeichnung des Verzichtsformulars sei ein Missverständnis vorgelegen, lässt sich aufgrund der Akten nicht erhärten. Im Gegenteil ...

b) Im Zulassungsverfahren einer Revision, welches sich neben der Formgültigkeit des Gesuches allein auf das Vorliegen von Wiederaufnahmegründen in abstracto erstreckt (Hauser/Schweri, a.a.O., § 102, Rz. 35), ist nur zu beurteilen, ob die geltend gemachten Tatsachen und Beweismittel im oben erwähnten Sinne neu bzw. erheblich sind. Nicht mehr eingegriffen werden kann dagegen in die Würdigung der dem Gericht im Zeitpunkt der Urteilsfällung bekannten Tatsachen und Beweismittel. Die Frage der Verletzung des Grundsatzes «in dubio pro reo» stellt sich im vorliegenden Verfahrensstadium entgegen den Vorbringen der Verteidigung deshalb nicht. Ob der Beweis einer dem Gesuchsteller nachteiligen Tatsache vom Kantonalen Strafgericht als zu Recht als erbracht gelten konnte, indem sie zu voller Überzeugung des Gerichtes dargetan worden ist, so dass vernünftige Zweifel ausgeschlossen werden konnten (§ 96 Abs. 2 StPO), darf heute nicht beurteilt werden. Es gilt nur zu prüfen, ob der Gesuchsteller zum Zeitpunkt der Urteilsfällung zwar vorhandene, dem Gericht jedoch überhaupt nicht oder in ihrer effektiven Bedeutung nicht bekannte Tatsachen oder Beweismittel vorzubringen vermag; denn eine Revision ist bei falscher Berücksichtigung bzw. falscher (BGE 122 IV 66: gar willkürlicher) Würdigung der, dem Gericht bekannten Tatsachen und Beweisen nicht möglich (Donatsch/Schmid, Kommentar zur StPO-ZH, Zürich 1996, § 449, Rz. 1 u. 11). Ebenfalls findet die Maxime «in dubio pro reo» nicht als Beweislastregel i.S. der Verletzung der Unschuldsvermutung Anwendung (Hauser/Schweri, a.a.O., § 102, Rz. 30 mit Hinweis; Trechsel, StGB-Kurzkommentar, Zürich 1997, Art. 397, Rz. 16).

c) Auf die vorliegend nicht weiter substantiierten Rügen einer nicht rechtskonformen Amtsverteidigung und fehlerhafter Übersetzungen im Strafuntersuchungsverfahren ist nicht weiter einzugehen, zumal daran im Revisionsgesuch und anlässlich der heutigen Revisionsverhandlung zu Recht nicht mehr festgehalten wurde. Sie betreffen die für den Schuldspruch relevanten Sachverhaltsfeststellungen nicht unmittelbar, und ausserdem können Verfahrensfehler nicht Gegenstand einer Revision sein.

(Beschluss vom 13.1.1998; KG 139/96 SK).

 

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Strafprozessrecht

– Zuständigkeit des Kantonsgerichtes nach § 9 StPO.

Aus den Erwägungen:

Der Gesuchsteller stützt sich auf § 9 StPO ab, wonach über die vom Angeschuldigten bestrittene Zuständigkeit bis zum Eingang der Anklage beim Gericht das Kantonsgericht entscheidet, was näher zu untersuchen ist.

a) Gegenstand von § 9 StPO ist die innerkantonale Zuständigkeit. Der Entscheid bezüglich des interkantonalen Gerichtsstandes ist von Bundesrechts wegen dem Bundesgericht vorbehalten (Art. 351 StGB, Art. 264 BStP), wobei auch der Beschuldigte zur direkten Anrufung der Anklagekammer berechtigt ist, auch wenn der Gerichtsstand nicht umstritten ist (Schmid, Strafprozessrecht, Zürich 1997, Rz. 416). Analog ist im innerkantonalen Verhältnis davon auszugehen, dass das Kantonsgericht vom Beschuldigten direkt angerufen werden kann, wenn er die Untersuchungsbehörde, welche die Strafuntersuchung an die Hand nimmt, als unzuständig erachtet, ohne dass er die untersuchende Behörde zuerst um eine anfechtbare Verfügung betreffend die Zuständigkeit ersuchen muss.

b) Gemäss § 5 Abs. 1 lit. e GO ist der Staatsanwalt zur Beurteilung von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Strafuntersuchungsbehörden zuständig, wobei nach Abs. 2 der Bestimmung dessen Entscheid endgültig ist. Da im vorliegenden Fall keine Kompetenzstreitigkeit zwischen dem Jugendanwalt und dem Kantonsverhöramt besteht, ist diese Bestimmung vorliegend nicht anwendbar. Ob im Falle eines Kompetenzkonfliktes zwischen Untersuchungsbehörden der Angeschuldigte trotz der Bestimmung von § 5 GO aufgrund von § 9 StPO direkt ans Kantonsgericht gelangen könnte oder gar einen Entscheid des Staatsanwaltes, mit welchem er nicht einverstanden ist, ebenfalls gestützt auf § 9 StPO ans Kantonsgericht quasi weiterziehen könnte, braucht vorliegend nicht beurteilt zu werden.

c) Aufgrund der allgemeinen Bestimmung von § 9 StPO ergibt sich die Zuständigkeit des Kantonsgerichts zur Beurteilung des vorliegenden Gesuches, was insoweit auch der speziellen Vorschrift von § 75 StPO entspricht, wonach gegen die Zuständigkeit des in der Anklage angerufenen Gerichts innert zehn Tagen beim Kantonsgericht Beschwerde erhoben werden kann. Allerdings lässt sich doch fragen, ob das Kantonsgericht nach § 9 StPO wie in § 75 StPO nur die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts zu beurteilen hat, weil der unmittelbar anschliessende § 10 StPO allein die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts zum Gegenstand hat. Dies kann schon deswegen nicht der Fall sein, weil sich §§ 5ff. StPO allgemein mit der Zuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens befassen und § 10 StPO das Problem der fortbestehenden unbestrittenen oder bejahten Zuständigkeit (perpetuatio fori) nach der Anklageerhebung lösen will. Weiter käme zur Beurteilung der Zuständigkeitsfrage, wenn nicht das Kantonsgericht, wiederum nur der Staatsanwalt in Betracht. Da es vorliegend aber nicht nur um die Zuständigkeit der Untersuchungsbehörden, sondern schliesslich auch um die Zuständigkeit zur Anklageerhebung geht – in Jugendstrafsachen vertritt der Jugendanwalt die Anklage (§ 37 Abs. 2 GO), während in den übrigen Verfahren vor kantonalen Gerichten die Staatsanwaltschaft die Anklage vertritt und dies nach Vereinbarung auch bei Anklagen vor den Bezirksgerichten anstelle der Bezirksämter tun kann (§ 37 Abs. 1 GO) – sprechen organisationsrechtliche Gründe dagegen, dass der Staatsanwalt letztlich darüber entscheidet, ob er oder der Jugendanwalt die Anklage zu vertreten hat. Könnte auch der Entscheid des Staatsanwaltes allenfalls an das Kantonsgericht weitergezogen werden, so würde ein Verfahren über zwei kantonale Instanzen zur Klärung der vom Angeschuldigten bestrittenen Zuständigkeit Verzögerungen des Untersuchungsverfahrens bewirken, was nicht nur der Bundesgesetzgeber bezüglich interkantonalen Kompetenzkonflikten mit dem direkten Weg an die Anklagekammer des Bundesgerichts, sondern auch der kantonale Gesetzgeber mit der Bestimmung von § 5 Abs. 2 GO, wonach Entscheide über Kompetenzstreitigkeiten letztinstanzlich erfolgen, vermeiden wollte.

(Beschluss vom 26.5.1998; KG 165/98 RK 2).

 

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Strafprozessrecht

– Beschlagnahme.

Aus den Erwägungen:

1. Die Beschwerdegegenstand bildenden Verfügungen des Verhöramtes betreffen zum einen die Auskunfterteilung über die Bankverbindungen der Beschwerdeführer bei ... und ..., zum andern die Sperrung der entsprechenden Konti und Safes. Die Beschwerde richtet sich nur gegen die verfügten Banksperren, nicht jedoch gegen die angeordnete Auskunfterteilung. Dies ergibt sich ...

2. Gemäss § 42 Abs. 1 StPO werden Gegenstände, die als Beweismittel von Bedeutung sein können oder die einzuziehen sind, beschlagnahmt. Das kantonale Recht unterscheidet demnach zwischen der Beweismittel- und der Einziehungsbeschlagnahme. Letztere ist eine von Bundesrechts wegen vorgeschriebene, provisorische, prozessuale Massnahme zur vorläufigen Sicherung der allenfalls der Einziehung unterliegenden Vermögenswerte (BGE 120 IV 366f. mit Hinweisen). Das Schweizerische Strafgesetzbuch unterscheidet zwei Einziehungstatbestände, nämlich die Sicherungseinziehung (Art. 58 StGB) und die Einziehung von Vermögenswerten (Art. 59 StGB). Von letzterer ist die Beschlagnahme von Vermögenswerten gemäss der kantonalen Strafprozessordnung zu unterscheiden (§ 35 Abs. 1 StPO): Entzieht sich nach dieser Bestimmung ein Angeschuldigter, der keine Sicherheit geleistet hat, der Strafverfolgung durch Flucht, oder erscheint es zur Sicherung der künftigen Vollstreckung des Urteils aus andern Gründen geboten, kann vom Vermögen des Angeschuldigten so viel beschlagnahmt werden, als zur Deckung der Kosten und zur Vollstreckung des Strafurteils erforderlich ist.

In den Verfügungen der Untersuchungsbehörde gegen die beiden Bank-institute wird der Beschlagnahmegrund nicht bezeichnet. Gemäss Ausführungen in der Vernehmlassung des Verhöramtes an die Staatsanwaltschaft soll sich die Sperre der Konti «namentlich» auf Art. 59 StGB stützen. Auch der Staatsanwalt stützt sich in seiner Beschwerdeverfügung zur Hauptsache auf diese Einziehungsbeschlagnahme von Vermögenswerten nach Art. 59 StGB. Die kantonalrechtliche Vermögensbeschlagnahme zur Sicherung der künftigen Vollstreckung des Urteils (§ 35 Abs. 1 StPO) wird seitens der Untersuchungsorgane sowie der Staatsanwaltschaft nicht angerufen, womit diese ausser Diskussion steht.

Nicht zur Diskussion stehen können vorliegend auch die Beschlagnahme im Hinblick auf eine spätere Sicherungseinziehung sowie die sogenannte Beweismittelbeschlagnahme. Eine Sicherungseinziehung könnte nur Gegenstände betreffen, welche die Sicherheit von Menschen, die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung gefährden (Art. 58 Abs. 1 StGB). Die Beweismittelbeschlagnahme entfällt schon deshalb, weil die Beschwerdeführer, wie dargetan, die Pflicht zur Auskunftserteilung über die fraglichen Konti anerkennen und sich nur gegen die Sperre an sich wehren. Mit der Auskunftserteilung aber sind genügende sachliche Beweismittel sichergestellt, die möglicherweise direkt oder indirekt mit den D. vorgehaltenen Straftaten in Zusammenhang stehen.

Zu prüfen bleibt demnach, ob die Sperre als vorläufige Sicherung einer Einziehung von Vermögenswerten nach Art. 59 StGB aufrechterhalten werden kann.

3. Die Beschlagnahme nach § 42 Abs. 1 StPO in Verb. mit Art. 59 StGB setzt einen vorbestehenden Tatverdacht voraus, und es können nur mutmassliche Deliktsobjekte beschlagnahmt werden. Es müssen ernsthafte Anzeichen dafür bestehen, dass die betroffenen Vermögenswerte in unmittelbarer Beziehung zu einer strafbaren Handlung stehen und aller Wahrscheinlichkeit nach von der Urteilsbehörde eingezogen werden (vgl. Gaillard, Die Einziehung unrechtmässiger Gewinne, SJK Nr.73, S.36). Er-forderlich ist das Vorhandensein einer Kausalbeziehung zwischen Straftat und zugeflossenem Vermögenswert, wobei es nicht darauf ankommt, wenn ein Dritter im Besitze des Vermögenswertes ist, ausser er habe den Vermögenswert in Unkenntnis der Einziehungsgründe erworben und soweit er für sie eine gleichwertige Gegenleistung erbracht hat oder die Einziehung ihm gegenüber sonst eine unverhältnismässige Härte darstellen würde (§ 59 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Kommentar Schmid, Einziehung, Organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Bd. I, 1998, § 2, N. 31, N. 77ff.).

a) Der Beschwerdeführer 1 ist der Begehung des betrügerischen Konkurses gemäss Art. 163 StGB sowie der Gläubigerschädigung durch Vermögensverminderung gemäss Art. 164 StGB verdächtigt. Er soll zum Schaden der Gläubiger Vermögenswerte verschenkt, verheimlicht oder sonstwie beiseite geschafft haben. Erhärtet sich dieser Verdacht, so hätte D. Dritten einen unrechtmässigen Vermögensvorteil verschafft. ... Der Umstand, dass sich vorliegend die Beschlagnahme auf Dritteigentum bezieht, schliesst diese nicht aus. Die Ausschlussgründe nach Art. 59 Ziff. 1 Abs. 2 StGB erscheinen bei vorläufiger summarischer Prüfung nicht gegeben.

b) Die Einziehung von Vermögenswerten ist jedoch nur zu verfügen, sofern diese nicht dem Verletzten zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes ausgehändigt werden (Art. 59 Ziff. 1 Abs. 1 letzter Satzteil StGB). Dieses Erfordernis stellt gegenüber dem früheren Rechtin Art.58f. aStGB klar, dass eine Einziehung nur dann wirklich vorzunehmen ist, wenn im Hauptfall des durch eine Straftat erlangten Vermögenswertes dieser dem Geschädigten, weil aus dessen Vermögen stammend, ausserhalb einer eigentlichen Einziehung und damit auch des Prozederes nach Art. 59 und 60 StGB zurückzugeben ist. Es fliesst hier – wie Schmid weiter in seinem neuen Kommentarwerk zur Einziehung, § 2, N. 66 festhält – ein, dass die Entschädigungsansprüche der Verletzten Vorrang besitzen, die Einziehung hier somit subsidiär ist und Art. 59 StGB nicht zu einer Doppelverpflichtung des Täters führen darf (siehe auch Kurzkommetar Trechsel, 1997, N. 9 zu Art. 59 StGB). Verzichtet der anspruchsberechtigte Geschädigte ausdrücklich auf Schadenersatz bzw. Restitution, wird im Regelfall mit dem zivil- auch der einziehungsrechtliche Anspruch untergehen, da der Staat nicht gleichsam stellvertretend auf einen Vermögenswert greifen kann, auf den der primär Berechtigte verzichtet (Schmid, a.a.O., § 2, FN 308, siehe auch FN 326).

c) Gemäss den zutreffenden Bemerkungen des Staatsanwaltes in seiner Verfügung unter Erw. 10, 2. Absatz muss ein konkreter Verdacht für einen Zusammenhang zwischen der mutmasslichen strafbaren Handlung und dem beschlagnahmten Vermögenswert gegeben sein. Vorliegend wird der Konnex darin gesehen, dass D. zum Nachteil seiner Gläubiger Bankguthaben sowie Aktien verschenkt hat. Die Sperre bezieht sich auf diese Bankkonti resp. Depots sowie Konti der Aktiengesellschaften, deren Aktien er seinen Kindern vermacht hat. Nicht zur Debatte stehen vorliegend sichernde Massnahmen der Strafverfolgungsbehörden bezüglich der Grundstücke sowie darauf lastender Inhaberschuldbriefe, die D. seiner Frau resp. seiner Tochter übertragen hat und welche Handlungen zur Konkurseröffnung geführt haben. Zu entscheiden ist nur darüber, ob die sichernden Massnahmen bezüglich des übrigen (beweglichen) Vermögens, welches D. bereits im Jahre 1990 seinen Familienangehörigen verschenkt haben will, aufrechterhalten werden können. Aus den folgenden Überlegungen ist diese Frage zu verneinen.

d) Art. 163ff. StGB schützen den Anspruch der Gläubiger auf Befriedigung aus dem restlichen Vermögen des Schuldners. Der Schuldner, der in Vermögensverfall geraten ist oder dem der Verfall droht, soll das noch vorhandene Vermögen seinen Gläubigern erhalten. In der Verletzung dieser Pflicht liegt das Wesen der Betreibungs- und Konkursdelikte (Trechsel, a.a.O., N. 1 zu Art. 163 unter Hinweis auf BGE 74 IV 37). Während Art. 163 StGB die bloss vorgetäuschte Verringerung des Vermögens zum Gegenstand hat, übernimmt Art. 164 StGB aus den früheren aArt. 163 und 164 die Tatvariante, bei welcher der Schuldner sein Vermögen zum Schaden der Gläubiger tatsächlich vermindert hat. Es geht im wesentlichen um die strafrechtliche Ahndung des Verhaltens, für welches das SchKG die actio pauliana (Art. 285ff. SchKG) vorsieht (Trechsel, a.a.O., N. 1 zu Art. 164 StGB).

Die Beschwerdeführer haben bereits in ihrer Stellungnahme vom 12. Februar 1998 im vorinstanzlichen Verfahren darauf hingewiesen, dass das im Jahre 1990 an Familienangehörige übertragene bewegliche Vermögen als Dritteigentum anerkannt und rechtskräftig ausgeschieden sei. Das Konkursamt hat diese Sachlage gegenüber dem Kantonsgericht bestätigt und ausdrücklich festgehalten, dass seitens der Konkursmasse wie auch nach Art. 260 SchKG im Konkurs D. keine Admassierungen und paulianischen Rechtsansprüche hängig seien und keine erhoben würden. Die Konkursmasse resp. die Abtretungsgläubiger haben demgemäss definitiv und abschliessend auf die Rückgabe von Vermögenswerten durch die begünstigten Familienangehörigen verzichtet. Haben die allenfalls Geschädigten aber ausdrücklich von der Weiterverfolgung ihrer behaupteten Ansprüche abgesehen, entfällt auch die Grundlage für eine spätere Einziehung durch den Strafrichter, unabhängig davon, welches die Gründe für den Verzicht waren. Es kann nach dem oben Gesagten nicht angehen, dass der Staat gleichsam stellvertretend auf einen Vermögenswert greifen kann, auf den die durch die Schenkungshandlungen allenfalls benachteiligten Konkursgläubiger verzichtet haben.

e) D. wird auch der Urkundenfälschung im Sinne von Art. 251 StGB verdächtigt, indem er vor der Konkurseröffnung diverse Schenkungsurkunden rückdatiert haben soll. Den Akten ist bezüglich dieser Verdächtigung nichts Näheres zu entnehmen. Soweit sich dieser Verdacht auf die Schenkungsurkunde, datiert auf den 28. Dezember 1990, beziehen soll, ist immerhin festzustellen, dass auf der Aktenkopie eine Unterschriftsbeglaubigung eines Zuger Notars vom gleichen Tag ersichtlich ist. Die Untersuchsbehörde hat die Sperre der Konti im übrigen nicht mit diesem Tatvorwurf in Zusammenhang gebracht, und es ist in keiner Weise dargetan, inwiefern bezüglich dieses Deliktsvorwurfes eine (spätere) Einziehung eines Vermögenswertes in Betracht kommen könnte.

f) Die vorliegende Beurteilung stützt sich auf das neue Einziehungsrecht, welches auf den 1. August 1994 in Kraft getreten ist. Das neue Vermögensstrafrecht ist auf den 1. Januar 1995 in Kraft getreten. Der Konkurs über D. wurde später ausgesprochen (Tatbestandsvoraussetzung nach Art. 163 und 164 StGB). Die angesprochenen Schenkungen sollen bereits im Jahre 1990 erfolgt sein. Es stellen sich im Strafverfahren möglicherweise übergangsrechtliche Fragen. Da aufgrund des neuen Rechts jedenfalls eine Beschlagnahme der fraglichen Vermögenswerte nicht mehr aufrechterhalten werden kann (Art. 2 Abs. 2 StGB), ist auf diese übergangsrechtliche Problematik nicht weiter einzutreten.

4. Es ergibt sich, dass mit der definitiven Auseinandersetzung zwischen den Konkursgläubigern und den durch die Schenkungen begünstigten Familienangehörigen eine spätere Einziehung (zugunsten möglicher Geschädigter) bezüglich des übertragenen beweglichen Vermögens ausser Betracht fällt. Damit ist auch der Beschlagnahme dieser Vermögenswerte, d.h. der Sperre der entsprechenden Bankkonti usw. der Boden entzogen.

Dieser Entscheid präjudiziert selbstverständlich in keiner Weise die Beurteilung darüber, ob dem Beanzeigten bezüglich der (angeblich) im Jahre 1990 vorgenommenen Handlungen ein Vorwurf im Sinne von Art. 163f. StGB gemacht werden kann. Der Verzicht der Konkursmasse auf die Weiterverfolgung paulianischer Anfechtungen bindet den Strafrichter bei der Beurteilung der Frage, ob der Schuldner zum Schaden der Gläubiger sein Vermögen tatsächlich oder zum Scheine vermindert hat, nicht.

(Beschluss vom 19.6.1998; KG 150/98 RK 2).

 

40

Strafprozessrecht

– Untersuchungshaft bei Jugendlichen.

Aus den Erwägungen:

1. Zunächst wird in der Haftbeschwerde geltend gemacht, dass aufgrund der Garantien von Art. 5 Ziff. 3 EMRK der Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen sei, da der im Kanton Schwyz sowohl als Untersuchungs- als auch als Anklagebehörde tätige Jugendanwalt keine Haft anordnen dürfe. Gemäss der angerufenen Bestimmung muss jede festgenommene oder in Haft gehaltene Person unverzüglich einem Richter oder einem andern, gesetzlich zur Ausübung richterlichen Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt werden. Daraus ist nicht der Schluss zu ziehen, ein Beamter dürfe nur mit richterlichen Aufgaben betraut sein. Die anderen Aufgaben des Beamten dürfen aber nicht den Zweck der Vorführung, nämlich die unabhängige und unparteiische Kontrolle der Untersuchungshaft, beeinträchtigen. Es geht nicht an, dass der Beamte mit richterlichen Funktionen später als Anklagebehörde im selben Verfahren auftritt (vgl. zum Ganzen, Villiger, Handbuch der EMRK, Zürich 1993, Rz. 349ff.; Haefliger, Die EMRK, Bern 1993, S. 93f.; BGE 121 I 213). Grundsätzlich würde der Schwyzerische Jugendanwalt, welcher die Untersuchung führt und die Anklage vertritt, deshalb den Anforderungen an den Richter im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK nicht genügen. Dennoch ist jedoch die Haftverfügung des Jugendanwaltes in förmlicher Hinsicht nicht zu beanstanden. Grundsätzlich fällt die Inhaftierung von Jugendlichen nämlich entgegen der Auffassung der Verteidigung unter Art.5 Ziff1 lit. d EMRK, da es sich dabei um eine Spezialnorm für Jugendliche handelt, die der allgemeinen Norm zur Untersuchungshaft in lit. c vorgeht (BGE 121 I 215 mit Hinweisen), weshalb sich der Beschwerdeführer vorliegend nicht auf die Garantien von Art. 5 Ziff. 3 EMRK berufen kann. Im übrigen steht ihm im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK die Möglichkeit zu, mit einer Haftbeschwerde an den Kantonsgerichtspräsidenten einen raschen Entscheid über die Rechtmässigkeit der Haft herbeizuführen (§ 28 StPO). Er hat denn auch eine Haftbeschwerde eingereicht, die es nachfolgend materiell zu behandeln gilt.

2. Nach § 118 StPO ist bei Kindern und Jugendlichen eine Anordnung der Untersuchungshaft nur ausnahmsweise und in dringenden Fällen möglich. Die Anordnung der Untersuchungshaft ist kraft Verweis von § 113 StPO möglich, wenn die Haftgründe von § 26 StPO erfüllt sind, wobei dem in § 118 StPO festgehaltenen Ausnahmecharakter und Dringlichkeitserfordernis entsprechend Rechnung zu tragen ist.

a) Der dringende Tatverdacht bezüglich eines Vergehens oder Verbrechens ist gegeben, hat der Beschwerdeführer sowohl die ihm zum Vorwurf gemachten Diebstähle im Kanton Zürich als auch den Sachverhalt, aufgrund dessen wegen versuchter Tötung bzw. Körperverletzung untersucht wird, zugegeben, was er anlässlich der Anhörung bestätigt hat. In der Haftbeschwerde wird denn auch nicht der allgemeine Haftgrund des dringenden Tatverdachts bestritten, sondern die von der Jugendanwaltschaft geltend gemachten Haftgründe der Flucht- und Fortsetzungsgefahr sowie des mangelnden Identitätsnachweises bestritten.

b) Mit der Inhaftierung wegen Fluchtgefahr nach § 26 Abs. 1 lit. a StPO soll verhindert werden, dass der Angeschuldigte sich der Teilnahme am Strafverfahren durch Flucht entzieht. Die Möglichkeit zur Flucht besteht abstrakt immer, weshalb die Annahme von Fluchtgefahr konkrete Anhaltspunkte dafür voraussetzt, dass die Flucht in erhöhtem Masse wahrscheinlich ist. Nicht erforderlich ist hingegen, dass aus dem Verhalten des Angeschuldigten konkret auf Fluchtabsichten geschlossen werden kann (Donatsch/Schmid, Kommentar zur StPO-ZH, Zürich 1996, § 58, Rz. 29). Die weitere Aufrechterhaltung der Haft mit der Begründung, dass der Beschwerdeführer sich nicht über seine Identität ausweist bzw. ausweisen kann (§ 26 Abs. 1 lit. d StPO), erweist sich – was vorab festgehalten werden kann – vorliegend nach einer Haftdauer von rund dreieinhalb Monaten als unangemessen und kann als konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr ebensowenig berücksichtigt werden, wie der Umstand, dass der allenfalls entlassene Inhaftierte fremdenpolizeilich ausser Land geschafft würde. Dagegen besteht vorliegend aufgrund der persönlichen Verhältnisse eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Fluchtgefahr: ...

c) Fortsetzungsgefahr ist insbesondere dann anzunehmen, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte befürchtet werden muss, der Angeschuldigte werde die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen missbrauchen (§ 26 Abs. 1 lit. c StPO). Mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr soll präventiv verhindert werden, dass der Angeschuldigte weiterhin Verbrechen oder erhebliche Vergehen begeht, und er dient im Gegensatz zur Kollusions- und Fluchtgefahr nicht primär Zwecken der Strafuntersuchung (Donatsch, a.a.O., Rz. 47 zu § 58). Es müssen aber zur Annahme der Wiederholungsgefahr bestimmte Anhaltspunkte bestehen, dass der Angeschuldigte neue strafbare Handlungen begeht. Bei der Prüfung, ob diese Annahme begründet ist, ist ein strenger Massstab anzulegen (Donatsch/Schmid, a.a.O., Rz. 53 zu § 58 mit Hinweisen; BGE 105 Ia 30f.). Aufgrund der Angaben einer Psychiaterin, welche den Angeschuldigten im Rahmen der bisherigen Untersuchung beurteilt hat, wird der Inhaftierte für gefährlich gehalten. Der Jugendanwalt hält deshalb Fortsetzungsgefahr für gegeben und hat am 12. Juni 1998 ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben. Ob deshalb Fortsetzungsgefahr bejaht werden darf, kann aufgrund der nachfolgenden Erwägungen zur Verhältnismässigkeit offenbleiben. Immerhin ist zu bemerken, dass das schwere Körperverletzungsdelikt offenbar mit Rivalitäten mit andern im Durchgangsheim in Euthal befindlichen Asylanten zusammenhängt und keine weiteren konkreten Anhaltspunkte dafür genannt werden, dass der Beschwerdeführer rückfällig wird. In der psychiatrischen Beurteilung wird auch die aufgrund der Vermutung, der Beschwerdeführer sei paranoid, festgestellte Gefährlichkeit nicht weiter konkretisiert.

3. Für eine Art Fürsorgehaft besteht keine gesetzliche Grundlage, weshalb die Untersuchungshaft nicht pädagogisch begründet werden darf. Sind aber die Haftgründe von § 26 StPO gegeben, darf Untersuchungshaft im Ausnahme- bzw. im Dringlichkeitsfall angeordnet werden. Die Verhältnismässigkeit der Untersuchungshaft im Jugendstrafverfahren ist dabei nicht nur in Relation zu einer künftigen Einschliessungsstrafe, sondern auch in Relation zu möglichen Massnahmen des Jugendstrafrechts, welche einem Freiheitsentzug gleichkommen, zu setzen (vgl. Lang, Die Untersuchungshaft im Jugendstrafverfahren, Zürich 1979, S. 239). Zu berücksichtigen ist aber, dass an Stelle der Untersuchungshaft Jugendliche in einer Anstalt oder Familie untergebracht werden können. Solche vorsorgliche Massnahmen nach § 117 StPO (bzw. Art. 90 StGB) gehen der nur ausnahmsweise zulässigen Anordnung der Untersuchungshaft gemäss § 118 StPO im Jugendverfahren vor. Es gilt bei Kindern und Jugendlichen nach dem Gebot der Subsidiarität, die Untersuchungshaft möglichst zu vermeiden (Lang, a.a.O., S. 249ff.).

a) Grundsätzlich ist der Beschwerdeführer nach § 117 StPO in einer geeigneten Anstalt unterzubringen. Zusammen mit der Schutzaufsicht des Kantons Schwyz hat sich die Jugendanwaltschaft erst anfangs Juni um die Unterbringung des Beschwerdeführers in eine Arbeitserziehungsanstalt bemüht. Nicht zuletzt gestützt auf die Auskünfte verantwortlicher Personen der angefragten Heime hat sich offenbar rasch die Überzeugung gebildet, dass der arabisch sprechende Beschwerdeführer wegen den sprachlichen und psychischen Problemen sowie des fremdenpolizeilichen Status (Asylbewerber) nicht integrier- bzw. unterbringbar sei.

b) Das Bundesgericht hat es in einem Fall – wo im übrigen notabene auch nicht feststellbar war, ob die Jugendliche jünger oder älter als 18 Jahre war – zugelassen, dass unter speziellen Vorkehren eine Einschliessungsstrafe abweichend von Art. 95 Ziff. 3 Abs. 1 Satz 2 StGB in einem Gefängnis vollzogen werden kann (BGE 112 IV 1ff.). Das Bundesgericht hat es als ausschlaggebend bezeichnet, dass die in jenem Fall Straffällige in einer Gemeinschaftszelle, wo sie über einen Fernsehapparat verfügt, untergebracht ist, zur Arbeit angehalten und regelmässig betreut sowie zusammenfassend nicht isoliert wird.

Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, dass für die Untersuchungshaft solche speziellen Vorkehren getroffen worden sind. Anlässlich der Anhörung sagte der Beschwerdeführer zwar aus, über einen Radio und einen Fernseher verfügen zu können. Ansonsten wird er jedoch unter den gleichen Haftbedingungen gehalten wie ein Erwachsener. Er beklagt wiederholt die Isolation und – mit einer Ausnahme – die Gleichgültigkeit der Aufseher. Dies ist nicht weiter zu verantworten, zumal die Verlegung des Beschwerdeführers in ein anderes Gefängnis bereits in der psychiatrischen Beurteilung vom 1. Mai 1998 angeregt worden ist und klar festgehalten wurde, dass sich der Beschwerdeführer in Einzelhaft in einer deutlichen Überforderungssituation befände, was bei der Anhörung bestätigt wurde.

c) Entscheidend ist nun aber, dass es auch unter den Aspekten der Flucht- bzw. Fortsetzungsgefahr nicht angeht, einen Jugendlichen, sei es zum Schutz der Allgemeinheit, sei es zum Schutze vor sich selbst, länger in Untersuchungshaft zu halten, als dies der Gesetzgeber für den Vollzug einer ausgesprochenen Einschliessungsstrafe vorgesehen hat (Art. 95 Ziff. 3 StGB, wonach die Einschliessung von länger als einem Monat in einer Arbeitserziehungsanstalt zu vollziehen ist). Lässt das Bundesgericht schon im Falle einer Verurteilung nur unter besonderen Verhältnissen einen längeren Vollzug einer ausgefällten unbedingten Einschliessungsstrafe in einem Gefängnis zu, erweist sich die weitere Aufrechterhaltung der bereits über dreieinhalb Monate dauernden Untersuchungshaft, welche nur im Ausnahme- bzw. im Dringlichkeitsfall überhaupt angeordnet werden darf, auch unter angepassten Verhältnissen als unzulässig. Darf grundsätzlich eine ausgefällte Einschliessungsstrafe nicht länger als einen Monat in einem Gefängnis vollzogen werden, so ist im Jugendstrafverfahren durch die Bereitstellung ausreichender personeller, sachlicher und räumlicher Mittel dafür zu sorgen, dass jugendliche Angeschuldigte spätestens nach einem Monat Untersuchungshaft vorsorglich in geeignete Anstalten eingewiesen werden können. Eine längere Untersuchungshaft erweist sich als unverhältnismässig, zumal sie gemäss § 118 StPO nur ausnahmsweise und in dringlichen Fällen angeordnet werden darf. Die Jugendanwaltschaft ist deshalb anzuweisen, den Beschwerdeführer innert einer Woche in eine geeignete Anstalt einzuweisen, andernfalls unter allfälligen Auflagen (etwa eine regelmässige psychische Betreuung, Einschalten der Schutzaufsicht) aus der Haft zu entlassen.

(Verfügung vom 22.6.1998; KG 249/98 GP).

 

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Schuldbetreibungs- und Konkursrecht

– Wiederherstellung einer Frist nach Art. 33 Abs. 2 SchKG; Zuständigkeit.

Aus den Erwägungen:

a) Art. 33 Abs. 4 SchKG ist eine neue Bestimmung des am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen, revidierten Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG). Nach dieser Bestimmung kann derjenige, welcher durch ein unverschuldetes Hindernis davon abgehalten worden ist, innert Frist zu handeln, die Aufsichtsbehörde oder die in der Sache zuständige richterliche Behörde um Wiederherstellung der Frist ersuchen. Den knappen Ausführungen in der Botschaft lässt sich entnehmen, dass mit dieser Bestimmung eine Lücke im Rechtsschutz geschlossen werden soll und diese sich an Art. 35 Abs. 1 OG und Art. 24 Abs. 1 VwVG anlehne (BBl 1991, III 46).

b) Im vorliegenden Fall ist keine richterliche Behörde in der Sache zuständig, weshalb der Bezirksgerichtspräsident sich zu Recht zur Behandlung des Gesuches als untere kantonale Aufsichtsbehörde zuständig erachtet hat.

Der Vorschlag, nur die obere kantonale Aufsichtsbehörde mit der Behandlung des Wiederherstellungsgesuches zu betrauen, überzeugt nicht (vgl. WALTHER, AJP 1996, S. 1382). Das Bundesrecht lässt es den Kantonen offen, eine untere und obere Aufsichtsbehörde zu bestellen (Art. 13 SchKG), regelt aber den Instanzenzug (Art. 17f. SchKG). In diesem Sinne ist die Zuständigkeitsordnung vom Bundesrecht klar definiert. Art. 33 Abs. 4 SchKG bewirkt eine Abkürzung des Verfahrens, indem die Beschwerde nach Art. 17 SchKG entbehrlich wird, da das Gesuch direkt bei der Aufsichtsbehörde einzureichen ist. Gegen den Entscheid der Aufsichtsbehörde ist dann die Beschwerde an die obere kantonale Aufsichtsbehörde (Art. 18 SchKG) sowie an das Bundesgericht (Art. 19 SchKG) möglich (vgl. dazu Jaeger/Walder/Kull/Kottmann, SchKG Bd. I, Zürich 1997, Art. 33, Rz. 15). Durch den Wegfall der Beschwerde nach Art. 17 SchKG wird der Instanzenzug schon verkürzt – eine weitergehende Verkürzung im Interesse der Rechtssicherheit lässt sich entgegen dem Gesetz nicht rechtfertigen. Mit der Beschwerdemöglichkeit an die obere kantonale Aufsichtsbehörde lässt sich dem Bestreben nach einer einheitlichen Praxis genügend Rechnung tragen.

c) Unklar ist weiter, inwiefern die Verfahrensbestimmungen von Art. 20a SchKG, insbesondere in bezug auf die Kostenlosigkeit und die Feststellung des Sachverhaltes von Amtes wegen, anzuwenden sind. Auf die Frage der Kostenlosigkeit ist später noch kurz zurückzukommen. Bezüglich der Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen ist zu berücksichtigen, dass sich die Bestimmung von Art. 33 Abs. 4 SchKG an den Gedanken der Wiederherstellung im Sinne von Art. 35 OG bzw. Art. 24 VwVG anlehnt. Danach hat derjenige, der die Wiederherstellung einer Frist verlangt, im Gesuch das Hindernis anzugeben bzw. sein Gesuch zu begründen. Mithin beurteilt sich die Wiederherstellung nach Massgabe der Gesuchsbegründung (BGE 119 Ia 88 mit Hinweisen). Da die Zuständigkeit der unteren, kantonalen Aufsichtsbehörde sich direkt aus Art. 33 Abs. 4 SchKG ergibt und somit über die Wiederherstellung nicht im eigentlichen Beschwerdeverfahren entschieden wird, ist davon auszugehen, dass der Untersuchungsgrundsatz im Sinne von Art. 20a Ziff. 2 SchKG keine Anwendung findet und auf die im Gesuch um Wiederherstellung dargelegten Gründe abgestellt werden darf.

(Beschluss vom 19.5.1998; KG 174/98 RK 2).